Auf dem Weg zur Vision Zero
Author: Matthias Gaul
Ab 7. Juli 2024 müssen alle Neufahrzeuge auf den Straßen der EU die meisten Vorschriften der General Safety Regulation erfüllen. Die unter anderem für neue Pkw und leichte Nutzfahrzeuge gesetzlich vorgeschriebenen Assistenzsysteme sollen die Verkehrssicherheit nachhaltig erhöhen.
Missachtung der Vorfahrt, nicht angepasste Geschwindigkeit, zu geringer Abstand, Fahren unter Alkoholeinfluss, Ablenkung durch Smartphones oder sonstige elektronische Kommunikationssysteme und vieles mehr: Wenn es im Straßenverkehr zu Unfällen kommt, spielt der Faktor Mensch eine ganz wesentliche Rolle. „Europaweit sind nahezu 90 Prozent der Unfälle auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen“, gibt DEKRA Unfallforscher Markus Egelhaaf zu bedenken. Um gegenzusteuern und die aus Unzulänglichkeiten am Steuer eines Kraftfahrzeugs resultierenden Gefahren bis zu einem gewissen Grad zu kompensieren, setzt die Automobilindustrie schon seit Jahren verstärkt auf Fahrerassistenzsysteme, die kritische Verkehrssituationen frühzeitig erkennen, vor Gefahren warnen und im Bedarfsfall auch aktiv in das Geschehen eingreifen können.
Genau darauf zielt auch die von der EU-Kommission im März 2019 verabschiedete General Safety Regulation (GSR) ab. Im Rahmen der Verordnung werden in mehreren Phasen verschiedene die Sicherheit erhöhende Fahrerassistenzsysteme für die neuen Kraftfahrzeuge auf Europas Straßen verbindlich vorgeschrieben. Seit Juli 2022 gilt die Regularie für neue Fahrzeugtypen, ab Juli 2024 müssen dann alle in der EU neu zugelassenen Fahrzeuge die meisten GSR-Vorschriften erfüllen. Für ein paar wenige Assistenzsysteme greift die Regularie auch erst nach 2024. „Insgesamt lässt das Gesamtpaket einen sehr großen Sicherheitsgewinn für alle Verkehrsteilnehmenden erwarten“, ist Markus Egelhaaf überzeugt. Zugleich gibt der DEKRA Experte zu bedenken, dass Assistenzsysteme die Fahrerinnen und Fahrer nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. „Diese liegt letztlich immer beim Menschen, der Stand heute selbst mit den zusätzlichen Sicherheitssystemen seine Fahrweise zum Beispiel der Verkehrssituation oder auch den Fahrbahn- und Sichtbedingungen anpassen muss.“ Die Grenzen der Physik ließen sich mit dem besten System nicht verschieben. Nicht vergessen dürfe man zudem, dass bis zu einer hohen Marktdurchdringung viele Jahre vergehen. Was bedeute, dass im Bestand immer noch viele Fahrzeuge ohne oder mit nur wenigen Assistenzsystemen unterwegs seien.
Unfallprävention mit elektronischer Hilfe
Aber was schreibt die GSR nun speziell für neue Pkw und leichte Nutzfahrzeuge im Detail vor? Ab 7. Juli 2024 müssen sie – wie schon bestimmte Lkw und Busse seit ein paar Jahren – mit einem hochentwickelten Notbremsassistenten ausgestattet sein, der mindestens stehende und bewegte Fahrzeuge erkennen und selbstständig bremsen kann. Ab 2026 muss der Notbremsassistent in Neufahrzeugen auch auf zu Fuß gehende und Radfahrende reagieren können. Für neue Fahrzeugtypen gilt Letzteres schon ab Juli 2024. Auch mit einem Notfall-Spurhalteassistenten müssen neue Pkw und leichte Nutzfahrzeuge ausgestattet sein. Ein solches System warnt, wenn das Fahrzeug den Fahrstreifen zu verlassen droht. Wenn die Fahrerin oder der Fahrer nicht reagiert und das Fahrzeug die Spur verlässt, greift das System ein.
Notbrems- und Spurhalteassistent sind Beispiele für Systeme, die direkt in kritischen Situationen beziehungsweise vor einer drohenden Kollision aktiv werden. Sie helfen konkret und situationsorientiert Unfälle zu vermeiden, die ansonsten sehr wahrscheinlich wären. Andere Systeme adressieren potenziell kritische Ereignisse, arbeiten präventiv und sind von konkreten Situationen eher unabhängig. Ein Beispiel dafür ist das ab Juli 2024 verpflichtende Müdigkeitswarnsystem, das die Aufmerksamkeit der Fahrerin oder des Fahrers analysiert und sie oder ihn gegebenenfalls zu einer Pause auffordert. Ebenfalls verbaut sein müssen eine Vorrichtung zum Einbau einer Alkohol-Wegfahrsperre, die Trunkenheitsfahrten verhindern helfen soll, sowie der sogenannte Intelligente Geschwindigkeits-Assistent. Dieses System warnt die Fahrerin oder den Fahrer, wenn die auf dem jeweiligen Streckenabschnitt zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten wird. Viele Unfälle passieren allerdings, weil zwar im Rahmen des generell Zulässigen, aber für die aktuell herrschenden Straßenverhältnisse oder Wetterbedingungen zu schnell gefahren wird. „Gegen nicht angepasste Geschwindigkeit ist die Intelligent Speed Assistance leider wirkungslos“, sagt der DEKRA Experte.
Auch der Unfalldatenspeicher kommt
Neben den bereits genannten Systemen sieht die GSR zahlreiche weitere elektronische Systeme als Pflichtausstattung vor. So zum Beispiel das Notbremslicht, das den hinter dem Fahrzeug befindlichen Verkehrsteilnehmenden durch ein schnelles Blinken der Bremslichter anzeigt, dass das vor ihnen fahrende Fahrzeug mit starker Verzögerung abgebremst wird, oder der Rückfahrassistent zur Vermeidung von Zusammenstößen bei der Rückwärtsfahrt. Darüber hinaus müssen neue Pkw und leichte Nutzfahrzeuge mit einem Unfalldatenspeicher beziehungsweise Event Data Recorder (EDR) ausgestattet sein. „Der EDR erfasst während der Fahrt ständig fahrdynamische Daten und die Zustände von Systemen sowie deren Betätigung oder aktive Eingriffe“, erläutert Markus Egelhaaf. Bleibend aufgezeichnet werden die Daten im Falle eines Unfalls oder auf Wunsch der Fahrerin oder des Fahrers – und zwar für die Zeit kurz vor, während und nach der Kollision. Durch die Auswertung solcher Daten lässt sich genauer ermitteln, wie ein Unfall abgelaufen ist. Vorgeschrieben werden last but not least auch ein Reifendrucküberwachungssystem und eine effektive Absicherung der Fahrzeug-IT gegen Cyberangriffe und Manipulationen.