Die neue Lust am Lastenrad

Author: Achim Geiger

01. Nov. 2023 Sicherheit im Verkehr

Im städtischen Alltag setzen viele Verkehrsteilnehmer auf die Vorteile der emissionsfreien Cargobikes. Wir haben bei DEKRA Experten nachgefragt, wie der Einstieg ins Radeln mit Lasten am besten gelingt.

Kann ein Lastenrad im Alltag ein Auto ersetzen? Vor wenigen Jahren hätte die Frage bei vielen Menschen für Kopfschütteln gesorgt. Schließlich galten Lastenräder lange Zeit als Nischenprodukte. Doch der Wind scheint sich gerade zu drehen. In der City-Logistik etwa sind Cargobikes längst eine feste Größe. Und im privaten Bereich punkten Lastenräder als Nutzfahrzeuge mit spannenden Designs und Lifestyle-Touch, mit denen sich eine Vielzahl von Lasten emissionsfrei und effizient auf kurzen Strecken befördern lassen. Metropolen wie Amsterdam, Hamburg und Kopenhagen gelten bereits als Hochburgen für Lastenräder – allein in der dänischen Hauptstadt sollen davon in diesem Jahr rund 40.000 auf den Straßen unterwegs sein.
Deutschland ist derzeit die Nummer eins auf dem Markt für Lastenräder
Andernorts erweist sich der Boom der Cargobikes noch als zartes Pflänzchen. In Österreich zum Beispiel können sich laut einer Umfrage im Auftrag der TU Wien bei einer Einwohnerzahl von knapp 9 Millionen Einwohnern rund 500.000 Personen vorstellen, ein Transportrad zu nutzen. In Frankreich waren Cargobikes noch vor fünf Jahren absolute Ladenhüter, mittlerweile geht die Nachfrage durch die Decke – für das Jahr 2022 verbuchte der Handel rund 33.000 verkaufte Einheiten (2021: 17.000 Einheiten). Für die europäische Lastenradindustrie ist derzeit allerdings Deutschland der Markt Nummer eins – deutlich vor Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) weist für 2022 rund 165.000 verkaufte Lastenräder mit E-Motor aus, was gegenüber dem Vorjahr einem Zuwachs von 37,5 Prozent entspricht. Im Vergleich dazu fallen mit rund 48.000 Einheiten die Verkäufe der Modelle ohne elektrische Unterstützung eher bescheiden aus.
Top-Argumente fürs Lastenrad sind Umweltschutz und der Transport von Kindern
Der typische Lastenradnutzer in Deutschland ist übrigens zwischen 30 und 49 Jahren alt und wohnt in einer Stadt, wie eine brandneue Studie im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) zu Marktpotenzial, Nutzungsanlässen und Einsatzzwecken von Lastenrädern im Privatsektor belegt. Erste Teilergebnisse bestätigen den Trend: Exakt 13 Prozent der Befragten gaben an, dass sie mit dem Kauf eines Lastenrads ein Auto ersetzt haben. Top-Argumente fürs Lastenbike sind der Umweltschutz, der Transport von Lasten und die Mitnahme von Kindern. Aber welches Lastenrad kommt in Frage, wenn Kinder, Einkäufe und der Familienhund zum Transport anstehen? Gibt es Standards im Hinblick auf Höchstgewicht und Abmessungen? Tatsächlich ist eine verbindliche Norm in den Ländern der EU bislang Fehlanzeige. Fahrradbranche und Politik tüfteln daher auf europäischer Ebene an einem Entwurf zur Lastenradnorm EN17860, die auch technische Fragen zu Normung und Gesetzgebung für diese Fahrzeugkategorie abdecken soll. Besonders im Fokus stehen einspurige Lastenräder bis 250 Kilogramm zulässigem Gesamtgewicht sowie mehrspurige Lastenräder bis 300 Kilogramm und schwere Lastenräder bis 650 Kilogramm.
Der Handel offeriert eine Vielfalt unterschiedlicher Typen und Systeme
Im privaten Sektor dürften in erster Linie die beiden ersten Kategorien zum Einsatz kommen. Dort können die Nutzer aus dem Vollen schöpfen. Der Markt bietet jede Menge Marken mit zwei- und dreirädrigen Transportfahrrädern, die zudem mit einer Vielfalt von Lademöglichkeiten aufwarten. Es gibt Cargobikes mit und ohne Transportbox sowie Modelle, die mit Sitzmöglichkeiten und Gurtsystemen eigens für den Transport von Kindern ausgelegt sind. Auch die Technik der elektrischen Cargobikes macht Forstschritte. Der Handel offeriert erste Bikes mit einem Antiblockiersystem (ABS) an Vorder- und Hinterrad. Bei den Lenkungen für Dreiräder dominiert die Drehschemel-Lenkung, bei der der gesamte Vorbau, also Lenker, Räder und Kasten, in die gewünschte Richtung gelenkt werden. Bei der Achsschenkel-Lenkung dagegen drehen sich beim Lenken nur Lenker und Räder, während die Transportbox fest mit dem Rahmen verbunden ist und daher beim Lenken keine eigene Bewegung ausführt. Eine vergleichsweise neue Klasse bilden die Dreiräder mit Neigetechnik, die sich wie ein herkömmliches Rad durch Verlagerung des Körpergewichts nach links oder rechts lenken lassen.
Wenn Kids in der Transportbox sitzen, hat die Sicherheit oberste Priorität
„Die verschiedenen Lastenradtypen besitzen spezielle Eigenschaften, die man von einem herkömmlichen Zweirad nicht kennt“, erklärt DEKRA Fahrradexperte Marc Gölz. Die Abmessungen etwa hält er für gewöhnungsbedürftig – dass die Fahrzeuge zum Teil ziemlich breit sind, merken die Nutzer spätestens dann, wenn der Radweg im Begegnungsverkehr plötzlich eng wird. Auch die Umlaufschranken an Radwegen und Straßenbahnübergängen können für einen Longjohn mit langem Radstand oder für ein Dreirad mit Transportbox zu einem schwierigen Hindernis werden. Außerdem spielt die Ladung eine wichtige Rolle für das jeweilige Fahrverhalten. „Das Fahren mit dem Lastenrad will geübt sein“, weiß Gölz. Der Fahrradprofi legt daher allen Lastenradlern in spe erst einmal ausgiebige Probefahrten auf einem Parkplatz oder einer unbefahrenen Straße ans Herz. Insbesondere klassische Dreiräder erfordern ein gewisses Training. In der Praxis haben die Bikes nämlich ein hohes Kipprisiko, wenn die Fuhre mit zu viel Tempo in die Kurve geht. Auch wenn eine höhere Zuladung in der Transportbox eine bessere Stabilität ermöglicht, sind vorausschauendes Fahren und moderates Tempo angesagt. Das gilt ganz besonders, wenn Kinder an Bord sind. Marc Gölz hat jedoch immer wieder beobachtet, dass Eltern ihre Kinder ohne Sicherung in die Transportbox setzen. Für den DEKRA Experten ein Unding: „Die Kinder können ja nicht selbst über die Sicherheit im Lastenrad entscheiden. Das ist die Aufgabe der Erwachsenen.“ Sein Credo: Sicher sind Kinder im Lastenrad nur mit einem Helm auf dem Kopf und mit korrekt angelegten Sicherheitsgurten.
Drei Fragen an DEKRA Unfallforscher Luigi Ancona
Die Fahrversuche und Bremstests mit Lastenrädern, die DEKRA immer wieder durchführt, zeigen sehr oft, dass ein nicht angeschnallter Kinderdummy im Transportkasten bei einer Vollbremsung aus 25 Stundenkilometern vorne aus dem Korb geschleudert wird und mit dem Kopf auf dem Asphalt aufschlägt. Wie realistisch sind diese Versuche überhaupt?
Ancona: Sie sind wirklich nah an der Realität dran. Das gilt für die Geschwindigkeiten und die Verzögerung der Lastenräder, aber auch für die eingesetzten Kinderdummys, die im Hinblick auf die Verteilung der Masse etwa sechs bis zehn Jahre alten Kindern entsprechen. Was wir allerdings nicht nachstellen können, das sind die im Notfall auftretenden instinktiven Reaktionen wie Muskelanspannung, das Festhalten und Abstützen in der Transportbox. Die Bremsversuche simulieren eine Situation, in der das nicht gesicherte Kind von der Bremsung vollkommen überrascht wird – es kann sich also weder festhalten noch abstützen. Wenn dann bei der Vollbremsung mit dem Lastenrad das Hinterrad noch dazu vom Boden abhebt und die Ladekante dadurch niedriger wird, dann kann es schon sein, dass ein Kind genau wie der Dummy aus der Transportbox fliegt.
Angenommen, zwei Kinder mit zusammen 50 Kilogramm Masse sitzen bei einer Vollbremsung aus Tempo 25 im Transportkorb. Welche Kräfte treten in diesem Fall auf?
Ancona: Für eine exakte Antwort bräuchten wir Daten zur genauen Bremsverzögerung. Bei Lastenrädern mit guten Bremsen können wir aber von einer Bremsung mit 6 m/s² ausgehen. In diesem Fall wirken zusammen Kräfte von 300 Newton. In einer ähnlichen Dimension wirkt zum Beispiel auch eine Verzögerung im Omnibus auf einen stehenden Fahrgast, wenn der Fahrer im Stadtverkehr einmal kräftig auf die Bremse tritt. Wer sich hier nicht an der Haltestange festhält, landet dann schon mal auf dem Fußboden.
Heißt das, dass ein nicht angeschnallter Erwachsener in einer Transportbox eines Lastenrads sich im Ernstfall doch gut festhalten kann?
Ancona: Im Prinzip ja. Wenn der Passagier weiß, dass gebremst wird und er sich gut festhalten und abstützen kann – etwa mit den Füßen vorne an der Wand – , dann funktioniert das gut. Aber auch hier gilt, dass der Fahrgast nicht immer mit einer Vollbremsung rechnet. Wenn er dann im entscheidenden Moment keine Körperspannung und eine ungünstige Position in der Box hat oder die Box nicht tief genug ist, dann ist auch ein Sturz mit entsprechenden Folgen denkbar. Beim Transport von Kindern sollten solche Überlegungen aber keine Rolle spielen. Kinder fahren im Lastenrad nur auf Nummer sicher mit Helm und angelegtem Sicherheitsgurt.

Checkliste: Auf Nummer sicher mit dem Lastenrad

Fahren mit dem Lastenrad
Das Fahren mit dem Lastenrad will gelernt sein. Am besten übt man auf einem Parkplatz oder einer unbefahrenen Straße die Grundlagen – erst ohne, danach mit Ladung: Ausweichen, Bremsen, Kurvenfahrt und Wenden.
Der Longjohn steht für dynamisches Fahren mit dem Lastenrad. Im Alltag fährt sich der Einspurer unproblematisch, nur bei hoher Zuladung wirkt das Bike beim Aufsteigen oder Anhalten etwas kippelig – der Fahrer muss also darauf achten, das Rad in der Balance zu halten.
Das Queren einer Straße mit einem Longjohn erfordert Achtsamkeit – wegen des langen Vorbaus ist die freie Sicht bisweilen eingeschränkt. Bei einem Übergang mit mehreren Ampeln sollte man beim Warten auf Grün darauf achten, dass Vorbau oder Heck nicht in die Straße ragen.
Das Fahrverhalten dreirädriger Lastenräder unterscheidet sich deutlich von einem herkömmlichen Fahrrad. Über die Fahrlinie entscheidet nicht die Verlagerung des Körperschwerpunktes, sondern die Lenkbewegung. Aufgrund einer höheren Kippneigung bei schneller Kurvenfahrt erfordern Dreiräder eine vorsichtige und moderate Fahrweise.
Dreiräder mit Neigetechnik haben eine Doppellenker-Vorderachse, mit deren Hilfe sie sich ähnlich wie Einspurer in die Kurve legen können. Daraus resultieren im Vergleich zum klassischen Dreirad fahrdynamische Vorteile beim Einlenken und bei zügiger Kurvenfahrt.
Das Lastenrad beladen
In der Praxis spielen das Gewicht sowie die Lage, Verteilung und Sicherung der Last eine maßgebliche Rolle für das Fahrverhalten. Insbesondere eine hohe Zuladung wirkt sich auf die Fahrdynamik aus.
Das Ladegut sollte so gesichert werden, dass es in der Kurve, bei einer starken Bremsung oder einer plötzlichen Ausweichbewegung nicht verrutschen oder herabfallen kann. Geeignete Hilfsmittel zur Ladungssicherung sind Antirutschmatten, Sicherungsnetze, Gummibänder und Abdeckungen.
Die Obergrenze für die Zuladung ist bestimmt durch das vom Hersteller vorgegebene zulässige Gesamtgewicht. Wer öfter schwere Lasten transportiert, sollte den Reifendruck im Blick behalten. Er darf in diesem Fall an der oberen Grenze des Erlaubten liegen.
Als Faustregel gilt, dass schweres Ladegut auf dem Cargobike möglichst weit nach unten gehört. Ein niedriger Schwerpunkt der gesamten Ladung verbessert das Fahrverhalten.
Das Ladegut sollte gleichmäßig in der Transportbox verteilt werden. Eine ungünstige Gewichtsverteilung kann sich negativ auf das Bremsverhalten und die Fahrstabilität auswirken. Sinnvoll ist eine formschlüssige Ladung in der Transportbox.
Die Ladung sollte weder über die Kanten des Transportbehälters ragen noch die Sicht des Fahrers einschränken.
Kinder unter sieben Jahren befördern
Kinder unter sieben Jahren dürfen nur in speziell dafür gebauten Modellen mit Sitz und Gurtsystem mitgenommen werden. Sollen mehrere Kinder an Bord, muss für jedes Kind ein eigener Sitzplatz mit der entsprechenden Ausrüstung vorhanden sein.
Die Gurte sollten fest sitzen, damit das Kind nicht unbeabsichtigt aus der Fixierung herausrutschen kann. Die Sicherheitsgurte bieten auch bei einem Sturz zusätzlichen Schutz.
Die DEKRA Unfallexperten raten eingehend dazu, dass Kinder beim Transport einen Helm tragen.