Automatisiert, aber sicher!
Author: Matthias Gaul
Am Lausitzring in Klettwitz prüft DEKRA Assistenzsysteme und automatisierte Fahrzeugtechnologien auf Herz und Nieren. Seit Neuestem auch im städtischen Umfeld auf speziell eingerichteten Citykursen. Die Erprobungen sind von zentraler Bedeutung – denn von der Sicherheit und Zuverlässigkeit der Systeme hängt die Akzeptanz seitens der Gesellschaft ab.
Wir sausten los, ohne dass jemand das Steuerrad hielt, flitzten um Ecken, wichen andern ebenso feinen Kraftkutschen aus, niemand hupte. […] Anstelle des Lenkrads fand ich eine Metallplatte, in die sehr fein und deutlich der Stadtplan eingeätzt war. Darüber einen nadelscharfen Zeiger. Kaum hatte ich diesen ein wenig verschoben, fuhr der Wagen an und jagte durch Straßen, die ich noch nicht kannte. Ebenso plötzlich hielt er. […] Das Wunderbarste daran war, dass der Wagen anderen Fahrzeugen auswich, vor belebten Kreuzungen plötzlich Halt machte, andere Autos passieren ließ und sich so benahm, als hätte er sämtliche nur denkbare Verkehrsvorschriften auswendig gelernt.“
Wer heute diese Zeilen aus Werner Illings 1930 erschienenem Science-Fiction-Roman „Utopolis“ liest, mag kaum glauben, in welcher Form der deutsche Schriftsteller damals schon das vorwegnahm, woran Fahrzeughersteller heute mit Hochdruck arbeiten. Zumal er in der weiteren Folge seines Romans im Hinblick auf die technische Funktionsweise der „geheimnisvoll von selbst lenkenden Autos“ auch schon das Thema Konnektivität anspricht: Jeder Wagen verfüge vorne über „ein kleines Prismenauge“, das auf lichtempfindliche elektrische Zellen wirke und mit „unauffällig in die Hauswände“ eingelassenen elektrischen Augen kommuniziere. „Durch wechselnde Spiegelreflexe regulieren diese mechanischen Augen Geschwindigkeiten und Lenkung.“
93 Jahre später steht die Gesellschaft mit der zunehmenden Digitalisierung des Straßenverkehrs an der Schwelle der wohl größten Mobilitäts-Revolution seit der Erfindung des Automobils. Software und Elektronik übernehmen dabei immer mehr Aufgaben und machen das Auto zur rollenden Hightech-Maschine. Inzwischen ermöglichen alle namhaften Volumenhersteller assistiertes und teilautomatisiertes Fahren, in den nächsten Jahren wird die Anzahl der Fahrzeuge mit Funktionen des automatisierten Fahrens deutlich zunehmen.
Ob automatisches Spurhalten, den umgebenden Verkehrsbedingungen angepasstes Beschleunigen und Bremsen, Notbremsungen etwa am Stauende oder automatisierte Vollbremsungen beim Rechtsabbiegen, um nur ein paar Beispiele zu nennen: Fahrerassistenzsysteme können kritische Verkehrssituationen frühzeitig erkennen, vor Gefahren warnen und im Bedarfsfall auch aktiv in das Geschehen eingreifen. „Allesamt haben die einzelnen Systeme das Potenzial, Unfälle zu verhindern oder zumindest die Unfallfolgen abzumildern“, betonte Jann Fehlauer, Geschäftsführer der DEKRA Automobil GmbH, bei der Präsentation des DEKRA Verkehrssicherheitsreports 2023 in Berlin unter dem Titel „Technik und Mensch“. Zugleich verwies Fehlauer darauf, dass Straßenverkehrsunfälle zu über 90 Prozent deshalb geschehen, weil Menschen Fehler machen. Diese Fehler gilt es daher etwa durch elektronische Hilfe so effizient wie möglich zu kompensieren. Denn das damit verbundene Leid ist immens: Weltweit schätzt die Weltgesundheitsorganisation die Zahl der jährlichen Verkehrstoten auf aktuell rund 1,3 Millionen.
Komplexe Testszenarien
Klar ist: Vor der Zulassung und der Serienfertigung müssen Assistenzsysteme ausgiebig auf Herz und Nieren geprüft und evaluiert werden, um sicherzustellen, dass sie bestmöglich funktionieren. Und genau das geschieht unter anderem im DEKRA Technology Center am Lausitzring im brandenburgischen Klettwitz. Die Expertenorganisation hat hier in den letzten Jahren auf einer Gesamtfläche von rund 550 Hektar das europaweit größte unabhängige Testgelände für automatisiertes und vernetztes Fahren geschaffen. Jüngster Meilenstein war Ende Juni 2023 die Einweihung spezieller Citykurse, um dort so realitätsnah wie möglich automatisierte Fahrfunktionen im städtischen Umfeld zu erproben.
Zu diesem Zweck wurden auf rund 80.000 Quadratmetern variabel nutzbare Asphaltflächen eingebaut. Die Anlage umfasst Fahrstreifen, Großflächen, Kreuzungsbereiche und sogar Straßenbahnschienen. Mit flexiblen Markierungen, mobiler Infrastruktur und situativer Randbebauung lassen sich nun die unterschiedlichsten Szenarien des innerörtlichen und teils überörtlichen Verkehrs darstellen.
Das konkrete Layout der Asphaltflächen der neuen Citykurse wurde von DEKRA in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe mit Fahrzeugherstellern, Zulieferern und Forschungseinrichtungen geplant. „Unter Federführung des Fraunhofer-Instituts für Verkehrs- und Infrastruktursysteme in Dresden haben wir das innerstädtische und vorstädtische Unfallgeschehen in Deutschland der Jahre 2013 bis 2019 detailliert ausgewertet“, erklärt Uwe Burckhardt, Leiter Test und Event am DEKRA Lausitzring. Mit den Straßengeometrien der flexiblen Citykurse lassen sich mehr als 80 Prozent dieser realen Verkehrsszenarien im Test abbilden.
Reproduzierbarkeit im Test kann Simulation validieren
„Mit Hilfe hochmoderner Technik können wir Fahrzeuge in nahezu beliebig komplexe Situationen bringen, um ihre automatisierten Fahrfunktionen der maximalen Test-Herausforderung auszusetzen“, geht Burckhardt ins Detail. In sogenannten Schwarmtests können dabei bis zu zwölf bewegte Objekte im Umfeld des Testfahrzeugs eingesetzt werden.
Hierfür muss der Datenaustausch zwischen dem Leitstand und den sogenannten Targets in Echtzeit beziehungsweise mit sehr geringen Latenzzeiten erfolgen – und das vorzugsweise über den Kommunikationsstandard 5G. Die genannten Objekte können unterschiedlichste andere Fahrzeuge wie auch Fußgänger darstellen und lassen sich, unter anderem mit Hilfe des Differential Global Positioning Systems, zentimetergenau steuern. Damit sind die gleichen Testabläufe immer wieder reproduzierbar, sodass Systeme und Funktionen unter jeweils gleichen Bedingungen getestet werden können. Also etwa die Reaktion eines Notbremsassistenten auf ein Stauende oder einen plötzlich die Straße querenden Fußgänger, das Verhalten eines Abbiegeassistenten bei einem Radfahrer im toten Winkel oder auch die Zuverlässigkeit hoch- und vollautomatisierter sowie autonomer Systeme, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen.
Überhaupt ist die Reproduzierbarkeit in diesem Kontext ein ganz wichtiges Schlagwort. „Um im Realverkehr in sogenannten Dauerlaufversuchen repräsentative und statistisch abgesicherte Aussagen zu erzielen, sind Distanzen von vielen Millionen Kilometern nötig“, erläutert Burckhardt. Und Kameras sowie Sensoren müssten sich in rund 15.000 Einzeltests bewähren , bevor sie in einem Serienfahrzeug verbaut werden dürfen. Dies sei wirtschaftlich kaum darstellbar. Also müssten möglichst viele Situationen unter vielfältigen Randbedingungen in Rechnersystemen simuliert werden. Je besser die Simulationssysteme mit den realen Bedingungen abgeglichen sind, desto bessere Ergebnisse liefern sie. Auch müssen Situationen, die in der Simulation kritische Ergebnisse liefern, möglichst reproduzierbar in der Realität nachgestellt werden können.
Aus diesen Gründen ist es für Entwickler in der Automobil- und Zulieferindustrie von großem Vorteil, wenn solche Simulationen anhand konkreter Straßendaten erfolgen können, auf denen später die Versuche auch praktisch nachgestellt werden. Und genau das ist mit dem Geländemodell des DEKRA Lausitzrings und der umgebenden Teststrecken bestens möglich. Hierfür hat DEKRA das gesamte Testgelände aufwendig über einen 3D-Laserscan digitalisieren lassen. Darauf aufbauend wurde ein 3D-Geländemodell entwickelt, das optimal der konkreten Planung von Versuchen für die Absicherung von Funktionen des hochautomatisierten Fahrens dient.
Weiterer Ausbau in Planung
Stand heute decken die Teststrecken am Lausitzring beinahe alle sogenannten „Operational Design Domains“ des automatisierten Fahrens ab – also die Umfelder, für die automatisierte Fahrfunktionen in Zukunft ausgelegt sein werden. Daneben dient das Gelände auch für NCAP-Szenarien zur Bewertung der Sicherheit von Pkw. Doch die Entwicklung ist damit nicht zu Ende. „Auch die letzten Lücken wollen wir bald noch schließen, entsprechende Planungen für weitere Teststrecken laufen bereits“, sagt Erik Pellmann, Fachbereichsleiter Technology Center bei der DEKRA Automobil GmbH. „Dabei ist es unser Ziel, auf bestimmten Strecken auch spezifische Witterungsbedingungen simulieren zu können.“ In absehbarer Zeit könnten auf dem Areal spezielle Überlandstrecken entstehen, auf denen Systeme des automatisierten Fahrens dann in landstraßentypischer Umgebung erprobt werden. Die perfekte Ergänzung also zum Hochgeschwindigkeitsbereich und den Citykursen. „Automatisierte und vernetzte Funktionen werden die Fahrzeuge und die Mobilität von morgen nachhaltig verändern“, so Pellmann. DEKRA stellt hierfür mit seinen Tests automatisierter Fahrfunktionen in Klettwitz oder auch vernetzter Funktionen im spanischen Málaga wichtige Weichen.
Sicherheit der Systeme wichtig für hohe Akzeptanz
Die Bedeutung solcher Tests kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn wie der eingangs bereits erwähnte DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2023 aufzeigt, besteht die große Gefahr, dass bei zu vielen Fehlern das Vertrauen in die jeweilige automatisierte Fahrfunktion oder das betreffende Fahrerassistenzsystem sinkt. Eine Warnfunktion, die beispielsweise zu empfindlich eingestellt ist und ständig Rückmeldungen an den Fahrer gibt oder zu viele Fehlalarme auslöst, wird schnell als störend oder belästigend empfunden. Das reduziert die Akzeptanz respektive die Bereitschaft, die Verantwortung der Kontrolle an das System zu delegieren. „Wenn die Technik an ihre Grenzen stößt, kann es mit zunehmendem Automatisierungsgrad auch passieren, dass der Fahrer sich von der Automation abkoppelt und wieder manuell die Kontrolle übernimmt“, gibt der DEKRA Verkehrspsychologe Dr. Thomas Wagner zu bedenken. Studien aus den USA hätten gezeigt, dass mehr als 80 Prozent solcher „Disengagements“ von Fahrern initiiert wurden, die sich entweder bei den Manövern der automatisierten Fahrzeuge unwohl fühlten oder aufgrund von unzureichendem Vertrauen vorsorglich manuelle Disengagements durchführten.
Ein weiteres Problem sieht Wagner speziell beim hochautomatisierten Fahren darin, dass es etwa bei Pkw zu Schwierigkeiten bei der Übernahme der Fahrzeugführung durch die Person am Steuer kommen könnte. Insbesondere dann, wenn die Fahrerin oder der Fahrer während der hochautomatisierten Fahrt zum Beispiel Zeitung liest oder sich mit dem Smartphone oder Tablet beschäftigt. Auch zu diesem Themenkomplex hat DEKRA auf dem Lausitzring in Kooperation mit der TU Dresden bereits eine umfassende Studie erstellt. Unter anderem mit dem Ergebnis, dass die Ausführung einer Nebenaufgabe – sofern diese gleichartige visuell-kognitive Ressourcen beansprucht wie die konventionelle Fahrtätigkeit – in hohem Maße das Erkennen systembedingter Fehler während der automatisierten Fahrzeugsteuerung und damit ein zeitnahes und der Situation entsprechendes Reagieren erschwert. Bei aller Euphorie für die Verlockungen der Digitalisierung in der schönen neuen automobilen Welt bleibt also zu hoffen, dass die Technik nicht zulasten des „Faktors Mensch“ geht, sondern tatsächlich in hohem Maße zum angestrebten Ziel beiträgt: zur Senkung der Unfallzahlen im Sinne der „Vision Zero“.
Technik und Mensch
Technologischer Fortschritt durch Assistenzsysteme oder automatisierte Fahrzeugtechnologien bietet zweifelsohne das Potenzial für mehr Sicherheit. Zu bedenken ist aber gleichzeitig, dass mit dem immer höheren Automatisierungsgrad die Komplexität der Systeme weiter zunimmt und für den Menschen die Technik möglicherweise nur noch bedingt beherrschbar bleibt. Umso wichtiger ist es deshalb, das gesamte Mobilitätssystem und die wechselseitige Wirkungsdynamik zu berücksichtigen, vor allem aber die Neuordnung der Rolle des Fahrers im Mensch-Maschine-Regelkreis. Auf den Stufen des assistierten Fahrens soll die Technik den Fahrer durch Information, Warnung oder mechanische Regelung bei der Bewältigung seiner Fahraufgabe unterstützen, ohne ihn zusätzlich zu belasten oder in seiner Verantwortung einzuschränken.
Dazu muss der Fahrer jedoch die Funktionsweise sowie die Grenzen der Fahrerassistenzsysteme (FAS) und Automatisierungslevel kennen und sich einer bestimmungsgemäßen Verwendung verpflichtet fühlen. Der DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2023 unter dem Titel „Technik und Mensch“ widmet sich genau diesem Spannungsfeld und liefert Analysen sowie Handlungsempfehlungen für eine sichere Mobilität von heute und auch in Zukunft.
Hier geht es zum Verkehrssicherheitsreport 2023.