Crashtest: Für den Fall der Fälle

Author: Ralf Johanning

17. Sept. 2020 Sicherheit im Verkehr

In das DEKRA Crash Test Center in Neumünster erhält man nur selten Einblick. Die Kundenaufträge sind oft streng geheim. In der hochmodern ausgestatteten Halle können neben den gängigen Modellen auch Fahrzeuge mit alternativen Antrieben getestet werden.

Es herrscht eine angespannte Stille im DEKRA Crash Test Center in Neumünster. Fast alle Anwesenden stellen sich gleichzeitig die bange Frage: Wird der Versuch wie geplant funktionieren? Immerhin hat es fast eine Stunde gedauert, um den Dummy perfekt auf einem E-Roller so zu befestigen und ihn mit Sensoren zu präparieren, dass es der Realität entspricht. Dann surrt das Zugseil. In einer Laufschiene wird der E-Roller auf 20 km/h beschleunigt und kracht dann frontal gegen den Bordstein. Der Dummy fliegt über den Lenker und landet gut einen Meter hinter dem Bordstein auf dem Boden. „Wow, der hat einen ganz schönen Satz gemacht“, staunt Peter Rücker, Leiter Unfallforschung bei DEKRA. Das Ergebnis: Ohne Helm mögen die Fahrer zwar cooler aussehen, Mütze und Sonnenbrille schützen jedoch nicht den Kopf bei einem Sturz. „In diesem Fall lagen die Kopfbelastungen deutlich jenseits des Grenzwerts, was irreversible Kopfverletzungen bedeuten könnte“, sagt Rücker.
Detaillierte Ergebnisse im Verkehrssicherheitsreport
Für den DEKRA Experten sind das wichtige Erkenntnisse, die in den aktuellen DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2020 einfließen, der noch in diesem Jahr erscheinen wird. Im DEKRA Crash Test Center in Neumünster hat nicht nur die Sachverständigenorganisation selbst die Möglichkeit, die Gefahren für Menschen, die mit zwei oder vier Rädern unterwegs sind, zu testen. Der Standort im Norden der Republik ist auch für viele Fahrzeughersteller die Anlaufstelle, um ihre Prototypen und Vorserienmodelle prüfen zu lassen und die notwendigen Testreports für die nationale und internationale Zulassung zu erhalten.
Dafür bietet der Standort einen vollständigen Prototypenschutz durch ein elektronisches Zugangssystem, das unbefugtes Betreten verhindert. Die Kunden können in voll ausgestatteten Büros ihre Versuche vorbereiten. Eine Ablade­schleuse und eine separate, temperierte Startbox schützen die Prototypen zusätzlich. „Nur selten hat die Öffentlichkeit Gelegenheit, einen Crash zu sehen. Die meisten Tests, die hier laufen, sind geheim. Darauf ist alles ausgerichtet. Lediglich, wenn wir Crashs unter eigener Regie für die DEKRA Unfallforschung oder die Presse durchführen, besteht die Chance, dass die Öffentlichkeit zusieht“, erläutert Thilo Wackenroder, der Leiter des DEKRA Crash Test Centers. So auch bei den Crashs des E-Rollers.
Helm verhindert Schlimmeres
Endlich ist der Dummy für den zweiten Versuch mit E-Scooter und Helm präpariert. Jetzt wollen die DEKRA Unfallexperten erfahren, welche Auswirkungen das Tragen eines Schutzhelms haben kann und wie sich das Aufprallverhalten des Dummys ändert, wenn der E-Scooter im Winkel auf den Bordstein trifft. Wieder wird der E-Scooter beschleunigt, er knallt gegen den Bordstein. Der Dummy hebt ab und landet unsanft auf dem Beton. Die Sonnenbrille fliegt weg, und auch der Sonnenschutz des Helms verabschiedet sich. Auch dieser Sturz wäre sehr schmerzhaft für den Fahrer. Allerdings hat der Helm Schlimmeres verhindert. Die Kopfbelastung liegt im moderaten Bereich.
150- bis 180-mal im Jahr testen die Experten in Neumünster Versuchsfahrzeuge nach allen gängigen nationalen und internationalen Standards für Mindestanforderungen von Kraftfahrzeugen wie der europäischen ECE, der amerikanischen FMVSS oder der japanischen TRIAS. Auch Crashversuche für den Insassenschutz nach ­Euro NCAP, US-NCAP und weiteren internationalen Verbraucherstandards übernimmt das Center in Neumünster. Dafür können die Profis pro Versuch eine Vielzahl von Sensoren einsetzen, die je nach Anwendung mit bis zu 50 Mess­kanälen bestückt sind. Sie zeichnen die Auswirkungen auf die Dummys bei Frontal- und Seitencrashs exakt auf.
Um genaue Ergebnisse zu erhalten, können auch die Autos mit bis zu 200 empfindlichen Sensoren präpariert werden, die das Verhalten des Fahrzeugs registrieren. So erhalten die Experten exakte und vielschichtige Daten. Zusätzlich werden für jeden Versuch mehrere Highspeed-­Kameras aufgestellt, die den Ablauf detailliert festhalten. In Neu­münster lassen sich die Kameras zudem in einer Grube unter dem Crashpunkt positionieren, um das Crashverhalten wirklich von allen Seiten aufzeichnen zu können. Das prozessgesteuerte, hydro­statische Antriebssystem kann Fahrzeuge mit bis zu 2,5 Tonnen Gesamt­gewicht und vier Meter Fahrzeughöhe auf der 102 Meter langen Anlaufstrecke auf bis zu 90 km/h beschleunigen. Bei Fahrzeugen von bis zu 3,5 Tonnen erreicht das System 80 km/h. Für die verschiedenen Versuche steht in der Anlage ein 120 Tonnen schwerer Aufprallbock, der sich um 360 Grad drehen lässt. So lassen sich Frontal-, Seiten- und auch Baum­anpralle darstellen. Die Outdoor-Crashanlage arbeitet, wenn nötig, mit noch höheren Geschwindigkeiten oder höheren Fahrzeuggewichten.
Seit einigen Jahren testet DEKRA in der Halle auch Fahrzeuge mit alternativen Antrieben. Dazu erfüllt die Sachverständigen- und Prüforganisation die erforderlichen technischen und behördlichen Voraussetzungen zur Vermeidung von zusätzlichen Brandrisiken inklusive einer speziellen CO2-Löschanlage. Denn insbesondere Fahrzeuge mit Gas- oder Wasserstoffantrieb weisen ein spezielles Brandrisiko auf. Somit wird DEKRA in Neumünster auch in Zukunft für alle Fahrzeuge die Anlaufstelle sein, wenn es um Crashtests geht.
Das DEKRA Crash Test Center in Neumünster
Indoor
  • Anlaufstrecke: 102 m
  • Geschwindigkeitsbereiche:
  • 4 bis 80 km/h bis 3,5 t;
  • 90 km/h bei 2,5 t
  • Genauigkeit: ± 0,2 % bis 80 km/h
  • Filmgrube: 16 m × 2,5 m × 3,5 m
  • Aufprallbock: 120 t;
  • 360 Grad drehbar; 3 m × 3 m × 2 m
Outdoor
  • Anlaufstrecke: 107 m
  • Geschwindigkeitsbereich:
  • 5 bis 120 km/h;
  • bei 40 t bis zu 44 km/h
  • Genauigkeit: ± 0,5 %
  • 2 Filmgruben à 6 m × 0,9 m × 3 m
  • Aufprallbock: 500 t; 4 m × 4 m × 5 m