Bahnhöfe voller Superlative und Kuriositäten

Author: Thorsten Rienth

08. März 2023 Innovation

Große Aufmerksamkeit wird Bahnhöfen gemeinhin nicht zuteil, was vor allem an ihrem Zweck liegen dürfte: Wer ankommt, will möglichst schnell weiter. Dabei lohnt oft ein genauerer Blick, denn hinter den Gebäuden steckt viel Einmaliges und Kurioses.

Wer zum Sireci-Bahnhof im europäischen Teil Istanbuls will und Zeit hat, der ergattert am besten ein Ticket für den altehrwürdigen Orient-Express und macht es sich ab dem Pariser Gare de l´Est bequem. Entworfen vom preußischen Architekten August Jachmund handelte es sich beim Sireci-Bahnhof, dessen Bau im Jahr 1888 begann, um eines der größten Gebäude der damaligen Zeit. Seine Bekanntheit erreichte der Bahnhof damals aber nicht der Größe, sondern seiner innovativen Ausstattung wegen: Gasbeleuchtung und Winterheizung waren inklusive.
Wärme, allerdings mittels Treibhauseffekts produziert, steht auch im Mittelpunkt eines Kuriosums am Bahnhof Madrid Atocha. Einmal durch die Türen getreten, beeindruckt den Reisenden ein in Stahl und Glas eingefasster tropischer Garten. In diesen verwandelten die Madrilenen das alte Terminal, als einst der Um- und Ausbau für den Hochgeschwindigkeitszug AVE anstand. In dem 4.000 Quadratmeter großen Garten wachsen mehr als 7.000 Pflanzen von 400 verschiedenen Arten aus Amerika, Asien und Australien.
Grand Central Station: Kopfgeldjäger unter 2.500 beleuchteten Sternen
Ebenfalls auch ohne Zugreise attraktiv ist die gigantische Haupthalle der New Yorker Grand Central Station. Sie lässt glatt in Vergessenheit geraten, dass der Bahnhof, gemessen an seinen 67 Gleisen, als der größte der Welt gilt. Nicht zuletzt seiner häufigen Verwendung als Filmkulisse wegen ist er weltbekannt. In „The Avengers“ (2012) zum Beispiel wurde das Terminal zur Halle der Gerechtigkeit. In „Midnight Run“ von 1988 schleppte Kopfgeldjäger Robert De Niro den Betrüger Charles Grodin durch die Halle zum Zug nach Los Angeles – weil Grodins Filmfigur Jonathan Mardukas unter Flugangst leidet. Ruhe für einen Blick nach oben hatte De Niro in der Szene nicht. Unter der Kuppel hätte er die zwölf Sternbilder sowie rund 2.500 beleuchtete Sterne gesehen.
Auch im tausende Kilometer entfernten Mumbai in Indien stellt die achteckige Kuppel des Shivaji Terminus, kurz Mumbai CST, ein architektonisches Highlight dar: Hundert Meter hoch erhebt sie sich eindrucksvoll über dem Haupteingang. Im Inneren könnten sich täglich über drei Millionen Passagiere an den vielfältigen Verzierungen, Säulen und Bögen begeistern. Kein Wunder also, dass der im viktorianischen Stil mit indischen Einflüssen gebaute Bahnhof Teil des UNESCO Weltkulturerbes ist.
Die Kombination aus modernen Elementen und traditioneller Baukunst prägt auch den Bahnhof der japanischen Stadt Kanazawa: Das Eingangsportal aus Holz wurde traditionellen Trommeln nachempfunden. Dahinter erhebt sich eine gigantische Kuppel aus Glas und Stahl. Gut möglich, dass dem Besucher ein paar Augenblicke zum Innehalten bleiben. Mit dem Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen kommt man in gerade einmal zweieinhalb Stunden in der Hauptstadt Tokio an – auf der Straße müsste man sich fast 500 Kilometer durchs japanische Bergland auf die andere Seite der Insel Honshu schlängeln.
Der tiefste Bahnhof: die Metro-Station Arsenalna in Kiew
Aber nicht nur Optik und Geschichte der Bahnhöfe sind einen Blick wert. Richtig interessant wird es auch bei den Superlativen, wobei bisweilen mehrere Städte die Tabellenspitze für sich reklamieren.
So streiten sich zum Beispiel die Moskauer und Tokioter U-Bahn um den Rekord der meisten täglichen Fahrgäste. Eine oft genannte Hausnummer: acht Millionen Passagiere. Die Metro in Peking will dagegen am 12. Juli 2019 sogar 13,754 Millionen Passagiere befördert haben. Ähnlich strittig ist auch der Titel des längsten Metronetzes: 831 Kilometer misst das Netz laut dem Betreiber Shanghai Municipal in der Metropole an der Mündung des Jangtsekiang. Der Pekinger Betreiber Beijing Municipal Government reklamiert 807 Kilometer für sich. Wer von beiden zu welchem Zeitpunkt ganz oben auf dem Treppchen steht, dürfte vor allem davon abhängen, wann welches Netz die nächste Erweiterung in Betrieb nimmt.
Ein paar weitere Superlative: Den Titel des höchstgelegenen Bahnhofs Europas hält der Bahnhof Jungfraujoch. Fast 3.500 über Meereshöhe in den Schweizer Alpen gelegen ist er nur per Zahnradbahn erreichbar. Als – von der Oberfläche betrachtet – am tiefsten gelegener Bahnhof gilt die Metro-Station Arsenalna in Kiew. Genau 105,5 Meter liegt sie tief. Der tiefst gelegenste Bahnhof unter dem Meeresspiegel, Yoshioka-Kaitei, befindet sich in Japan. Er wurde fahrplanmäßig zwischen den Jahren 1988 und 2006 bedient und liegt im Seikan-Tunnel unter dem Meeresgrund der Tsugaru-Straße. Heute dient er nur noch als Notausstieg.
„Es geht um Risikominimierung mit System“
Karl-Friedrich Schöps, Experte für Fahrtreppen und Aufzüge bei DEKRA, kennt die Unfallrisiken auf Fahrtreppen im Detail. Insbesondere im Getümmel der großen Bahnhöfe sollten Reisende besonders aufmerksam sein.
Herr Schöps, fahren eigentlich alle Fahrtreppen gleich schnell?
Schöps: Innerhalb der EU ist dies oft der Fall. Die Norm EN115 legt für Fahrtreppen eine Maximalgeschwindigkeit von 0,75 Meter pro Sekunde fest. Das entspricht etwa 2,7 Stundenkilometern. Hintergrund ist, dass die Fahrtreppen – Rolltreppen ist übrigens die geschützte Bezeichnung nur eines einzigen Herstellers – im Notfall schnell abgebremst werden müssen. Das würde auch bei höheren Geschwindigkeiten funktionieren, aber dann wäre womöglich der Bremsweg zu lang, um Verletzungen zu vermeiden.
Die 0,75 Meter in der Sekunde sind aber nicht gerade flott. Trotzdem gelten Fahrtreppen als Gefahrenpunkte, egal ob im Kaufhaus, am Flughafen oder am Bahnhof. Warum?
Schöps: Einerseits, weil Fahrtreppen tonnenschwere Ungetüme mit hoher Antriebsleistung darstellen. Andererseits, weil es konstruktionsbedingt zahlreiche kleine Spalte gibt, in die Schnürsenkel, Rocksaume, die weichen Kanten von Gummistiefeln oder Finger geraten könnten. Werden Gegenstände oder Gliedmaßen eingezogen, kann das schlimme Verletzungen zur Folge haben. An kritischen Stellen sind deshalb sogenannte Abweiserbürsten vorgeschrieben, die die Spalte abdecken.
Wie lassen sich die Gefahren außerdem minimieren?
Schöps: Beispielsweise mithilfe von Kammplattenschaltern. In die Kammplatten am oberen und unteren Ende der Fahrtreppe „fädeln“ sich die auf- oder ablaufenden Stufen. Wird die Kammplatte über eine definierte Höhe angehoben, löst der Schalter den Nothalt aus. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist in diesem Fall nämlich etwas eingezogen worden, was nicht eingezogen werden soll. Einen weiteren Sicherheitsmechanismus stellen die Stufenbruchkontakte dar. Sie detektieren eine gebrochene und dadurch durchhängende Stufe. Würde die nämlich in Fahrgeschwindigkeit gegen die Kammplatte stoßen, spürten die Passagiere plötzlich eine Riesenruck unter den Füßen. Unterm Strich geht es also bei jedem Schutzmechanismus um Risikominimierung mit System.
Angenommen, bei jemandem vor mir verfängt sich der Schnürsenkel zwischen den Rolltreppenstufen. Wie reagiere ich richtig?
Schöps: An beiden Enden der Fahrtreppen gibt es rote und gut sichtbare Notstoppknöpfe. Die löst man im Gefahrenfall so schnell es geht aus – lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Ist der nächste Notstoppknopf zu weit entfernt: laut rufen und näherstehende Passagiere zum Drücken auffordern.
Und ansonsten gilt: links gehen, rechts stehen?
Schöps: Zumindest gilt dieses ungeschriebene Gesetz in Ländern mit Rechtsverkehr. Aber eigentlich sollte man aus Sicherheitsgründen aber auf Fahrtreppen gar nicht gehen und immer den Handlauf benutzen. In der Praxis steckt hinter dem ungeschriebenen Gesetz ein Servicethema: Wer es am Bahnhof eilig hat, soll eine Fahrtreppe auch hochlaufen können. Historisch betrachtet gibt es aber noch einen weiteren Grund: Früher gab es in Kaufhäusern am oberen Ende einer Fahrtreppe Etagenbeschilderungen. Wenn oben jemand stehen blieb, um sie zu lesen, schob die Fahrtreppe hinter ihm ja immer neue Leute nach. Wenn in so einem Fall nicht kreuz und quer gestanden und gelaufen wird, entschärft das die potenzielle Gefahrensituation ungemein.