Erkenntnisse aus dem DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2022

Fahranfänger schätzen Gefahren und Risiken oft falsch ein

21. Dez. 2022

Mangelnde Erfahrung, Selbstüberschätzung und erhöhte Risikobereitschaft gehören zu den gefährlichsten Fehlerquellen von Fahranfängern – nicht selten mit der Folge schwerer Verkehrsunfälle. „Umso wichtiger ist es daher, schon in der Fahrschulausbildung den Fokus nicht allein auf Fahrzeughandling und Regelkunde zu legen, sondern auch übergeordnete Kompetenzen wie Selbstkontrolle, die Akzeptanz von Verkehrsregeln und die Bedeutung einer möglichst frühzeitigen Gefahrenwahrnehmung zu vermitteln“, sagt Dr. Thomas Wagner, Verkehrspsychologe und Fachbereichsleiter der amtlich anerkannten Begutachtungsstellen für Fahreignung bei DEKRA. „Dadurch ließen sich zahlreiche Unfälle vermeiden, die im schlimmsten Fall tödlich enden“, ergänzt Wagner unter Verweis auf den DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2022 „Mobilität junger Menschen“, der unter anderem auch die Unfallrisiken näher beleuchtet, die aus Fehleinschätzungen und riskanten Fahrmanövern resultieren.

  • Selbstüberschätzung und hohe Risikobereitschaft spielen große Rolle
  • Expertise geübter Fahrer entwickelt sich erst in ständiger Praxis
  • Befragung belegt häufige Fehleinschätzung eigener Kompetenz
Die Führerscheinprüfung ist geschafft, endlich kann es losgehen. Von ausreichender Expertise kann zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich nicht die Rede sein. Mit dem Bestehen der theoretischen und praktischen Führerscheinprüfung wird zunächst „nur“ der Nachweis einer anforderungsgerechten Fahrkompetenz bestätigt. „Wie beim Erlernen einer neuen Sportart müssen sich Regelwissen, Trainingspraxis und situationsgerechte Beobachtungs- und Bewegungsabläufe im täglichen Straßenverkehr miteinander verbinden“, sagt der DEKRA Experte. Zug um Zug werde das theoretische Wissen in praktische Handlungsschemata überführt. „Dreh- und Angelpunkt ist dabei die zuverlässige Verarbeitung der relevanten Informationen einer Situation, um so ein unmittelbares Verständnis für die zu lösende Fahraufgabe zu entwickeln“, so der Verkehrspsychologe weiter.
Dass insbesondere Fahranfänger immer wieder in Unfälle verwickelt sind, hat nach Ansicht des im DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2022 unter anderem zitierten britischen Psychologen David Crundall neben Risikofaktoren wie Impulsivität, Ablenkung und Beeinträchtigung durch Alkohol und Drogen auch mit Defiziten bei der Gefahrenwahrnehmung zu tun. Also mit der Fähigkeit, gefährliche Situationen auf der Straße rechtzeitig zu erkennen, um angemessen zu reagieren und einen Unfall zu vermeiden. Dahinter verbirgt sich eine vielschichtige Kette von Verhaltensweisen, die sich erst mit zunehmender Fahrpraxis in Richtung verbesserter Verkehrssicherheit und damit verknüpfter Handlungskompetenz entwickeln.
Das beginnt schon mit dem Erkennen eines möglichen „Gefahrenvorläufers“. Das kann zum Beispiel ein entgegenkommendes Fahrzeug sein, das in eine Seitenstraße abbiegen möchte und dabei die Fahrspur kreuzen muss. Oder ein Fahrzeug, das durch seine baulichen Abmessungen einen Fußgänger verdeckt. Sind die daraus resultierenden Hinweise auf eine mögliche Gefahr gering, sucht man die Umgebung im Idealfall weiter ab, und mit der Zeit bildet sich eine Prioritätshierarchie heraus. Diese Rangliste ist ständig in Bewegung, da neue Elemente in die Liste aufgenommen werden, alte Elemente herausfallen und die aktuellen Elemente entsprechend der dynamischen Situation neu geordnet werden. Versäumt man es, einen „Vorläufer“ zu fixieren, bevor eine Gefahr tatsächlich auftaucht, kann es für eine angemessene Reaktion unter Umständen schon zu spät sein. Mit möglicherweise fatalen Folgen.

Anfälligkeit für riskante Fahrmanöver
Ein wichtiges Thema rund um Fahranfänger ist die Akzeptanz und Befolgung von Verkehrsregeln. Ob ein Kraftfahrer eine Verkehrsregel einhält oder nicht, hängt neben seiner Leistungsfähigkeit, also dem Können, auch von seiner Bereitschaft ab, sich im Straßenverkehr anforderungsgerecht zu verhalten, also dem Wollen. Das „Nichtwollen“ hat vor allem mit der Risikobereitschaft zu tun, die bei jungen Menschen stärker ausgeprägt ist, insbesondere bei Männern.
Neben der Sozialisation sind Hormone wie Testosteron unter anderem ursächlich für dieses Phänomen. Dadurch, dass der Organismus von Männern im Vergleich zu Frauen eine viel größere Menge dieses Hormons aufweist, entsteht ein neuroendokrinologischer „Tsunami“ während der Pubertät bei gleichzeitig noch verzögertem Reifungsprozess des Gehirns. Die Balance zwischen dem „Spiel mit dem Feuer“ im Sinne einer Risikonahme und der „Vernunftsbremse“ durch neuronale Verschaltungen im Frontalhirn ist noch nicht hergestellt, denn die Hirnreifung vollzieht sich vom hinteren zum vorderen Gehirnbereich. Zunächst werden jene Gehirnstrukturen in ihrer Entwicklung abgeschlossen, die für einfachere Steuerungsprozesse wie motorische Aktivitäten oder sensorische Aufgaben im Zuge der Informationsverarbeitung zuständig sind. Danach folgen komplexere Verarbeitungsstrukturen, die für das Planen, Entscheiden, Abwägen und Ausführen von Handlungsplänen verantwortlich sind.
Die zeitlich unterschiedlich verlaufende Gehirnentwicklung bringt es nach Ansicht von Dr. Thomas Wagner mit sich, dass bei jungen Menschen spontanes Handeln stärker ausgeprägt ist als bei Menschen ab dem mittleren Lebensalter: „Dies beeinflusst den Umgang mit Risiken im Straßenverkehr und die Bereitschaft, Risiken in Kauf zu nehmen oder sogar bewusst aufzusuchen, um das vermeintlich hohe eigene fahrerische Können auszukosten.“
Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Ergebnisse einer im Auftrag von DEKRA durchgeführten Forsa-Befragung unter 18- bis 24-Jährigen. Danach meinten 54 Prozent der in Deutschland befragten jungen Männer, sie führen viel oder zumindest etwas besser als der Durchschnitt aller Autofahrer. Unter den befragten jungen Frauen meinten das 37 Prozent.
„Dieses Phänomen der Selbstüberschätzung bildet sich auch im sogenannten subjektiven Alter ab“, verweist der DEKRA Experte auf eine 2021 von Martin Pinquart und Hans-Werner Wahl publizierte Metaanalyse. Die beiden Psychologen haben auf der Basis von 293 weltweit verfügbaren Studien mit rund 1,5 Millionen Studienteilnehmern von der Jugend bis ins hohe Alter festgestellt, dass bis zum Alter von 25 Jahren eine systematische Überschätzung des eigenen Alters um bis zu fünf Jahre stattfindet. Damit sei ein überzeichnetes positives Selbstbild mit Attributen wie lebenserfahren, reif und kompetent verknüpft.

Hintergründe zum Thema sowie weitere Informationen zur Verkehrssicherheit liefert der aktuelle DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2022 „Mobilität junger Menschen“. Er steht online unter www​.dekra-roadsafety​.com zum Download zur Verfügung. Dort finden sich auch sämtliche Vorgänger-Reports seit 2008.