Auf Grün schalten

Author: Hannes Rügheimer

18. Jan. 2023 Nachhaltigkeit

Unternehmensführung gleicht in Zeiten von Klimawandel, Energiekrise und Inflation fast einem Vabanquespiel. Unternehmen müssen sich neu erfinden – und innovative Technologien einsetzen. Erfolgreiche Beispiele zeigen, wie dies gelingen kann.

Der weltweite Energiebedarf steigt kontinuierlich an. Lag er im Jahr 2021 bei 624 Exajoule (umgerechnet rund 173 Billionen Kilowattstunden), erwartet die International Energy Agency eine Zunahme auf 673 Exajoule bis 2030. Der Output von Solar- und Windenergie sowie anderen Arten der Erzeugung erneuerbarer Energien wächst dabei schnell, doch auch der Verbrauch von Erdöl und Erdgas nimmt weiterhin zu. Was bedeutet all dies für Unternehmen angesichts massiv steigender Energiepreise, aber auch zunehmender Dringlichkeit bei der Bekämpfung des Klimawandels? Je energieintensiver das aktuelle Geschäftsmodell, desto höher ist der Druck, „grün“ zu werden. Und das heißt nicht selten, sich von Grund auf neu erfinden zu müssen. Wir haben weltweit nach Beispielen gesucht, wo dies schon gelungen oder zumindest auf gutem Wege ist.
So baut etwa der Energiekonzern Shell im Rotterdamer Hafen eine Anlage zur Wasserstoffgewinnung – in unmittelbarer Nachbarschaft zu bestehenden Raffinerien des Unternehmens. Nach Angaben von Shell soll es die größte Anlage dieser Art in Europa werden. Der in einer zwei Hektar großen Halle untergebrachte Elektrolyseur soll eine Leistung von 200 Megawatt erreichen. 2025 soll die Anlage Holland Hydrogen I in Betrieb gehen und täglich 60 Tonnen grünen Wasserstoff produzieren. Deren Energiegehalt von über 2.300 Megawattstunden entspricht dem typischen Jahresstromverbrauch von 650 Haushalten.
Den zur Produktion erforderlichen Strom liefert ein Offshore-Windpark. Ein Teil des grünen Wasserstoffs soll dann wiederum in der konventionellen Shell-Raffinerie zur Produktion von Benzin, Diesel und Flugzeugtreibstoff aus Erdöl genutzt werden. Doch auch die Betankung von Brennstoffzellen-Lkw vor Ort ist geplant. Bis 2050 will der Konzern komplett emissionsfrei werden.
Grüne Transformation im energieintensiven Sektor
Im Herbst 2021 produzierte Deutschlands größter Stahlkonzern Thyssen-Krupp erstmals eine größere Menge Stahl mit zertifiziert verbesserter Ökobilanz. Dazu ersetzte das Unternehmen einen Teil des zur Produktion normalerweise benötigten Eisenerzes durch Eisenschwamm. Diese Legierung weist immer noch einen Eisengehalt von 92 bis 95 Prozent auf, lässt sich in Hochöfen aber mit weniger Energieeinsatz schmelzen. Die dabei eingesparte Kohle senkt die CO2-Emissionen. Bernhard Osburg, Vorstandschef der Thyssen-­Krupp-Stahlsparte, erklärte, dass sich die CO2-Bilanz pro Tonne Stahl damit um bis zu 70 Prozent verringere.
Die erste Lieferung ging an einen Hersteller von Badarmaturen, der damit seine eigene Klimabilanz verbessern kann. Auch wenn der Konzern diese Innovation als Meilenstein bei der grünen Transformation der Stahlerzeugung feierte, räumte er gleichzeitig ein, dass dies nur der erste Schritt gewesen sei. Bis 2045 sollen die Hoch­öfen konsequent mit grünem Wasserstoff betrieben werden, was die Stahl­erzeugung dann komplett klimaneutral machen würde. Auch andere Stahlhersteller verfolgen dieses Ziel. Schließlich zählt die Stahlbranche aktuell zu den Industrien mit dem höchsten CO2-Ausstoß.
Heimische Biogaserzeugung statt Import
Doch nicht nur in der Produktion sind grüne Lösungen gefragt. Die Abfallentsorgungsindustrie bietet ebenfalls Möglichkeiten, um mehr Klimanutzen zu erzielen. So betreibt seit Frühjahr 2022 der städtische Entsorgungsbetrieb Limeco in Dietikon im Kanton Zürich die erste Power-to-Gas-Anlage der Schweiz im industriellen Maßstab. Der Klärschlamm aus der lokalen Abwasserreinigung landet in einem Bioreaktor. Die benachbarte Müllverbrennungsanlage liefert den erforderlichen Strom, um daraus klimaneutrales Methangas zu erzeugen. Das gereinigte Gas ist brennbar und besitzt die gleichen Eigenschaften wie Erdgas. Somit lässt es sich beispielsweise zur Beheizung von Wohnhäusern nutzen oder auch speichern, um in Gaskraftwerken immer dann klimaneutralen Strom zu erzeugen, wenn Photovoltaik in der Nacht oder im Winter an ihre Grenzen stößt.
Der bei der Müllverwertung ohnehin anfallende Strom von 10.000 bis 15.000 Megawattstunden pro Jahr erzeugt bis zu 18.000 Megawattstunden grünes Gas. Thomas Peyer vom Schweizer Stadtwerke­verbund Swisspower rechnet vor: Würden alle 30 Kehrichtverwertungsanlagen der Schweiz eine Power-to-Gas-Anlage vergleichbarer Leistung aufbauen, ließe sich zusammen mit dem bereits heute in der Schweiz produzierten Biogas in etwa der bisherige Import von Erdgas aus Russland ersetzen.
Vom Biomüll zum Biokraftstoff
Ganz so weit ist der italienische Mineralöl- und Energiekonzern Eni (ehemals Agip) zwar noch nicht, doch in seinem Forschungszentrum in Novara in Nord­italien betreibt das Unternehmen eine Pilotanlage, die aus Biomüll Biokraftstoff erzeugt. Im Pilotbetrieb nutzt dieses Waste-­to-Fuel-Projekt vorwiegend Küchenabfälle. Mit sogenannter hydro­thermaler Verflüssigung wandelt die Anlage unter hohem Druck die feuchte Biomasse in ein rohölähnliches Produkt um. Es lässt sich etwa als Schweröl­ersatz für Schiffsantriebe nutzen oder in höherwertige Biokraftstoffe raffinieren. Der Wirkungsgrad liegt bei beeindruckenden 80 Prozent. Zudem erzeugt der Prozess bis zu 60 Prozent Wasser, das wiederum in anderen Prozessen genutzt wird.
In größerem Maßstab könnten nach der Waste-to-Fuel-Methode statt Küchenabfällen auch Klärschlamm, Pflanzenabfälle oder Agrarabfälle zum Einsatz kommen. Würde diese Technologie konsequent in ganz Italien implementiert, ließen sich laut Betreiber Eni bis zu sechs Millionen Barrel Schweröl jährlich einsparen. Zudem führt das Verfahren Abfälle, die andernfalls deponiert oder anderweitig entsorgt werden müssten, einer nützlichen und klimaneutralen Verwendung zu.
Schwimmende Windparks sind effizienter
Die Abhängigkeit von fossiler Energie zu reduzieren und möglichst bald vollständig zu beenden, ist das Ziel vieler ­weiterer weltweiter Aktivitäten und Projekte. Eines davon ist zum Beispiel 15 Kilometer vor der Küste von Aberdeen­shire in Schottland zu finden. Hier läuft die Kincardine Offshore Windfarm, die derzeit größte schwimmende Windkraft­anlage der Welt. Insgesamt sechs rund 200 Meter hohe Turbinen mit 80 Meter langen Rotoren nutzen die hier vorherrschenden Starkwinde, um pro Jahr bis zu 200 Gigawattstunden Strom zu produzieren. Diese Menge reicht aus, um mehr als 50.000 schottische Haushalte mit Strom zu versorgen. Bei Wassertiefen von bis zu 80 Metern ist dies jedoch nur möglich, indem die Windturbinen auf sogenannten Halbtaucherplattformen montiert sind, die ursprünglich für Öl- und Gasbohr­inseln entwickelt worden waren. Um Wind und Wellen standzuhalten, sind die als Dreieck angeordneten Plattformen zum Teil mit Wasser befüllt. Ein Pumpensystem gleicht diesen Ballast permanent zwischen den drei Zylindern aus. Zusätzlich sind die Plattformen mit Kabeln im Meeresboden verankert. Ohnehin weht der Wind über dem Meer gleichmäßiger und weniger turbulent als an Land, was auch weniger Materialermüdung und Schäden in den Windfarmen bedeutet.
Experten wie Aaron Smith, Chief Commercial Officer des Betreibers Principle Power, weisen darauf hin, dass sich bis zu 80 Prozent der weltweit zur Windkraftnutzung geeigneten Standorte auf dem Meer befinden – an Stellen mit vergleichbaren Wassertiefen. Von den beeindruckenden Hightech-Konstruktionen macht auch die derzeit weltweit zweitgrößte dieser Anlagen Gebrauch, die 20 Kilometer vor der portugiesischen Stadt Viana do Castelo im Atlantik liegt. Der Offshore-Windpark Wind Float Atlantic liefert seit Juli 2020 Strom für über 60.000 Haushalte.
Energieerzeugung mit Wasserkraft
Dabei bietet das Meer nicht nur als Standort von Windkraftanlagen neue Chancen für die Gewinnung erneuerbarer Energien. Auch Wasserkraft kann eine wichtige Rolle bei der nachhaltigen Energieerzeugung spielen. So wurde in der Minas-Passage der Bay of Fundy, Kanada, im Mai 2022 das weltweit erste schwimmende Gezeitenkraftwerk ans Netz angeschlossen. Drei Kraftwerke mit jeweils sechs steuerbaren Unterwasserturbinen nutzen die vor Ort ungewöhnlich starken Strömungen mit einem weltweit einzigartigen Tidenhub, der bei Neu- und Vollmond bis zu 16 Meter erreicht. Realisiert hat das Konzept die deutsche Schottel-Gruppe aus Spay am Rhein. Ein kilometerlanges Unterwasserkabel liefert den erzeugten Strom an ein Umspannwerk an Land. Seit Sommer 2021 liefert die Anlage 4.915 Megawattstunden pro Jahr, was rechnerisch für die Versorgung von rund 400 kanadischen Haushalten ausreicht. Eine Skalierung der aktuell noch als Demonstrationsanlage deklarierten Installation ist bereits geplant.
Mikrowellentechnologie für ultratiefe Bohrungen
An Land wiederum versprechen sich Initia­tiven wie das 2018 von Forschenden des Plasma Science and Fusion Center des MIT gegründete US-Start-up Quaise nachhaltige Energieerzeugung durch ultratiefe Geothermie. Seine Gründer wollen in bisher unerreichte Tiefen von 10 bis 20 Kilometern vorstoßen und die dort herrschenden Hitzereservoirs zur Energieversorgung nutzen. Allerdings sind herkömmliche Bohrgeräte für so tiefe Bohrungen ungeeignet. Die in mehreren Kilometern unter der Erdoberfläche herrschenden Hitze- und Druckverhältnisse bringen sie an ihre Grenzen. Deshalb will Quaise für die tiefer liegenden Gesteinsschichten eine neuartige, hochfrequente Mikrowellentechnologie nutzen. Sie soll das Gestein regelrecht pulverisieren beziehungsweise schmelzen.
Die in großer Tiefe angezapften Heißwasservorkommen ließen sich dann zur direkten Wärmeversorgung von Haushalten oder aber zur Stromerzeugung nutzen. 2024 will das Start-up ein funktionierendes System präsentieren, einen kommerziellen Einsatz strebt es ab 2026 an.
Kernfusion statt Kernspaltung
Klingt dieses Konzept schon nach einer Technologie aus Science-Fiction-Filmen, ist die Energiegewinnung aus Kern­fusion noch um einiges weiter entfernt. Doch eine reale Zukunftsoption sehen Forschende darin durchaus.
Bereits 2020 war es im experimentellen Fusionsreaktor Korea Superconducting Tokamak Advanced Research (KSTAR) im südkoreanischen Daejeon gelungen, für rund 20 Sekunden eine Kernfusion aufrechtzuerhalten. Anders als bei der bisher üblichen Kernspaltung, die ­Atomkerne durch eine Kettenreaktion aufspaltet, werden bei der Kernfusion die Atomkerne miteinander verschmolzen. Dieser Prozess, der bei einer Temperatur von 60 bis 100 Millionen Grad Celsius stattfindet, könnte enorme Energiemengen aus einfachen Rohstoffen wie Wasserstoff­-Isotopen liefern.
Doch die Materialbelastung innerhalb der Reaktoren ist enorm, und lange Zeit verbrauchten die Experimente mehr Energie, als sie erzeugten. Doch im Dezember 2022 verkündeten Wissenschaftler der US-Forschungseinrichtung National Ignition Facility (NIF) am Lawrence Livermore National Laboratory in Kalifornien, dass sie erstmals bei einer Kernfusion mehr Energie gewonnen, als eingesetzt hätten – wenn auch nur rund 20 Prozent. „Einfach ausgedrückt ist dies eine der beeindruckendsten wissenschaftlichen Leistungen des 21. Jahrhunderts“, sagte US-Energieministerin Jennifer Granholm anlässlich dieser Ankündigung. Stephane Dujarric, Sprecher der Vereinten Nationen, ergänzte: „Es handelt sich um eine äußerst wichtige Entwicklung, die im Kampf gegen den Klimawandel eine große Hilfe sein könnte.“
Allerdings warnen die Forschenden vor verfrühten Erwartungen. So erklärt zum Beispiel Tony Roulstone, Dozent für Kernenergie an der britischen University of Cambridge, dass das jüngste Ergebnis immer noch weit von einer praktischen Nutzung zur Energiegewinnung entfernt sei. Dafür müsste der Prozess laut Roul­stone etwa doppelt so viel Energie liefern wie die dafür eingesetzte Menge. Optimistische Prognosen hoffen auf eine kommerzielle Nutzung in etwa 10 oder 15 Jahren, pessimistischere rechnen damit, dass dies noch 30 oder 40 Jahre dauern könnte.
Energiebedarfsanalyse dank Auditierung
Doch bis es so weit ist, müssen die Welt als Ganzes und jedes Unternehmen für sich tragfähige Lösungen für ihren Energiebedarf finden. Optimistisch stimmt dabei, dass die Länder mit dem größten Energieverbrauch (China, die USA und Indien) auch an der Spitze der Liste von Ländern mit der höchsten installierten Kapazität erneuerbarer Energiequellen stehen.
Einzelne Unternehmen wiederum sollten sich bewusst machen, dass jede Reise mit dem ersten Schritt beginnt – und der heißt in der Regel, sich zunächst einen aktuellen und ungeschönten Überblick über den gesamten Energiebedarf und alle internen Energieflüsse zu verschaffen. Dabei kann ein sogenanntes Energieaudit helfen. Und dann sind Innovationsbereitschaft und Technologieoffenheit gefragt. Denn das machen gerade auch die hier vorgestellten Beispiele überaus deutlich: Den Herausforderungen unserer Zeit mit Optimismus und Gestaltungswillen zu begegnen, bleibt der einzige Weg, um eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft zu ermöglichen – im Großen wie im Kleinen.
Sparhilfe Energieaudit
Energieaudits sind eine effektive Maßnahme, die Unternehmen dabei hilft, Energie einzusparen. In Deutschland ist die Durchführung solcher Audits für Großunternehmen alle vier Jahre verpflichtend. Die Pflicht gilt für alle Firmen, die nicht mehr zu den kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) zählen. Doch auch für KMU kann es sinnvoll sein, freiwillig ein Energieaudit durchzuführen. Der genaue Ablauf eines Energieaudits ist in der internationalen Norm DIN EN 16247-1 festgelegt, und die Auflagen hierzu sind universal.
Die Audits helfen bei der Identifizierung von Sparpotenzialen. Sie sind auch Voraussetzung dafür, beispielsweise gesetzliche Ausgleichsregelungen gemäß dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, wie es sie in Deutschland und in ähnlicher Form auch in vielen anderen Ländern gibt, in Anspruch zu nehmen. Im Wesentlichen erfassen die Auditoren dabei alle Energieflüsse innerhalb des Unternehmens und stützen sich dabei auf aktuelle Betriebsdaten.
Ein Abschlussbericht fasst die Ergebnisse zusammen und leitet daraus einen Maßnahmenplan ab, mit dem der Betrieb seine Energieeffizienz erhöhen kann. Die Energieaudits, die DEKRA sowohl in Deutschland als auch im europäischen Ausland wie Spanien, Portugal, Polen oder Österreich anbietet, können auch als Vorstufe eines Energiemanagementsystems nach DIN EN ISO 50001 gesehen werden. Weitere Informationen und Kontakt unter: dekra​.de/de/energieaudit​.