Allerhöchste Eisenbahn!
Author: Joachim Geiger
Ein neuer Zug für das europäische Schienennetz ist für jeden Hersteller eine Herkulesarbeit. Am Ende steht die entscheidende Frage, ob das Schienenfahrzeug mit den europäischen und nationalen Vorschriften kompatibel ist. Handfeste Unterstützung geben die DEKRA Rail Experten.
Die niederländische Eisenbahngesellschaft Nederlandse Spoorwegen N.V. – eine unabhängige Gesellschaft im Staatsbesitz – setzt beim Ausbau ihres Fuhrparks auf topmoderne Technik aus Frankreich. Der neue Stern am niederländischen Bahnhimmel ist ein elektrischer Niederflurtriebzug des Herstellers Alstom mit Sitz in Saint-Ouen-sur-Seine für den Regional- und Intercity-Verkehr, der unter dem Label „InterCity Nieuwe Generatie“ (ICNG) an den Start gehen soll. Der künftige Leistungsträger gehört zur Coradia Stream-Baureihenfamilie und wird seit 2018 in einer eigens eingerichteten Zugmontageanlage im polnischen Katowice hergestellt. Vor allem in Sachen Nachhaltigkeit soll der bis zu 200 Stundenkilometer schnelle ICNG neue Maßstäbe setzen. Das Traktionssystem ist für regeneratives Bremsen ausgelegt, was den Energieverbrauch des Fahrzeugs um 35 Prozent ebenso wie den Verschleiß an den Rädern reduzieren soll. Außerdem sollen sich über 95 Prozent der verbauten Komponenten recyclen lassen.
Freie Fahrt durch Europa? Das klappt nur, wenn alle Behörden zustimmen
Mit diesen Talenten ist eine Karriere des Hightechzugs im europäischen Bahnnetz fast schon programmiert. Alstom liegen bereits Anfragen von Bahnbetreibern aus Dänemark, Luxemburg, Italien und Deutschland vor. Freie Fahrt also für den ICNG nach Europa? Ganz so einfach ist es für den Schienenfahrzeughersteller nicht, wie Jean-Paul van Hengstum, Geschäftsführer von DEKRA Rail im niederländischen Utrecht, erklärt. Die europaweit für Fahrzeuggenehmigungen zuständige Eisenbahnagentur der Europäischen Union (ERA) drückt zwar kräftig aufs Tempo, um die Harmonisierung der Zulassungsprozesse voranzubringen. Zudem gibt es mit den „Technischen Spezifikationen für die Interoperabilität“ (TSI), die die Anforderungen und die Prüfverfahren für Interoperabilitätskomponenten und Teilsysteme enthalten, einen ausgezeichneten Hebel für ein einheitliches Bahnsystem in Europa. Andererseits sind auch heute noch auf europäischen Gleisen unterschiedliche Zugsicherungssysteme, Bahnstrom- und Zugfunksysteme im Einsatz. Ein in den Niederlanden zugelassener Zug könnte daher nicht ohne Weiteres über die Grenze auf belgische oder deutsche Gleise wechseln. Dem stünde ein Bündel von Vorschriften entgegen, mit denen die nationalen Behörden der EU-Mitgliedsstaaten ihre eigenen Anforderungen für die Eisenbahnsicherheit festlegen.
Schon der Genehmigungsantrag ist eine Herausforderung für einen Bahnhersteller
„Im Genehmigungsverfahren für einen neuen Zugtyp kommen auf europäischer und nationaler Ebene unglaubliche Mengen an Vorschriften, Regeln und Anforderungen zusammen, die alle zu berücksichtigen sind“, berichtet DEKRA Experte van Hengstum. Dabei stellt bereits der Genehmigungsantrag bei der zuständigen Behörde für die meisten Fahrzeughersteller eine enorme Herausforderung dar – schließlich liegt laut EU-Recht die Verantwortung für die Vorbereitung, Organisation und Vollständigkeit eines Antrags stets beim Antragsteller selbst. Für Alstom stellt sich daher die Frage, ob der neue Zug mit allen Teilsystemen wie Energie, Zugsteuerung und Zugsicherung sowie mit den Komponenten wie Drehgestell und Stromabnehmer den Anforderungen der europäischen und nationalen Sicherheitsvorschriften entspricht.
An genau diesem Punkt kommen die Experten von DEKRA Rail ins Spiel. Schließlich ist die Prüfung und Zertifizierung von Schienenfahrzeugen eine zentrale Kompetenz im umfangreichen Portfolio. Als sogenannte benannte Stelle (Notified Body, NoBo) verfügt DEKRA darüber hinaus über die Anerkennung der Europäischen Union als neutrale und unabhängige Organisation, die zur Zertifizierung auf Basis der Technischen Anforderungen (TSI) berechtigt ist. Auf nationaler Ebene wiederum kann DEKRA in den Niederlanden und in Belgien jeweils eine Akkreditierung als bestimmte Stelle (Designated Body, DeBo) vorweisen – hier wie dort steht die Einhaltung der nationalen technischen Regeln im Fokus.
DEKRA spielt im Auftrag von Alstom eine Schlüsselrolle bei der Genehmigung
Im Genehmigungsverfahren für den ICNG spielt DEKRA im Auftrag von Alstom eine Schlüsselrolle. Demnach sind die Bahnexperten aus Utrecht als bestimmte Stelle (DeBo) für die nationalen Konformitätsprüfungen in den Niederlanden zuständig. Den mit Abstand aufwendigsten Part übernehmen allerdings die Mitarbeiter der Test- und Prüfabteilung. Tatsächlich ist der ICNG zu Beginn seines Lebenszyklus für Außenstehende erst einmal ein unbeschriebenes Blatt. Damit die vorgeschriebenen Konformitätsprüfungen überhaupt stattfinden können, braucht es Daten, genauer: riesige Mengen an Daten, die DEKRA Rail in Mess- und Versuchsfahrten ermitteln muss.
Dieser Job ist allerdings ein veritabler Langstreckenlauf, der sich von der Übernahme des Auftrags im September 2018 bis in die Gegenwart zieht. Der Prüfmarathon für den ICNG begann Anfang 2020 mit dynamischen Tests auf dem Eisenbahnversuchsring Velim des tschechischen Eisenbahnforschungsinstituts VUZ in der Nähe von Prag. Danach folgten Mess- und Testfahren im niederländischen Schienennetz, wobei ein großer Teil der Testläufe hauptsächlich nachts stattfand. Die größte Herausforderung für die DEKRA Experten im ICNG-Projekt? Die Antwort von Jean-Paul van Hengstum kommt schnell und präzise. „Die Organisation der Tests war ein schwerer Brocken. Viele Messfahrten mussten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und verschiedenen Zugkonfigurationen durchgeführt werden. Auch die wiederholte Ausstattung der Testfahrzeuge mit Laborequipment wie Hochfrequenztechnik, Spezialantennen, Sensoren und Hochgeschwindigkeitskameras erforderte jedes Mal viel Zeit und Aufwand.“
Die DEKRA Experten kennen den ICNG mittlerweile wie ihre Westentasche
Mittlerweile kennen die DEKRA Ingenieure den schnittigen Niederflurtriebzug wie ihre Westentasche. Sie haben die Zugbeeinflussungsausrüstungen und die Systeme für sicherheitsrelevante Funktionen untersucht, aber auch die elektromagnetische Abstrahlung, um Beeinträchtigungen des bahntechnischen Equipments oder der empfindlichen Infrastruktur entlang der Zugstrecke auszuschließen. Auf der Prüfagenda standen unter anderem auch die Messung der Druckwellen bei der Ein- und Ausfahrt an Tunneln sowie die Lärmemissionen und der Druck des Stromabnehmers auf die Oberleitung. Bis heute haben die DEKRA Experten über 250 Testfahrten mit dem ICNG absolviert – zuletzt noch auf Strecken in Belgien. Mitte 2022 haben sie die Dokumentation ihrer Arbeit an Auftraggeber Alstom übergeben. Auch die Zertifikate der bestimmten Stelle liegen bereits vor. Und wie könnte nach Ansicht von Jean-Paul van Hengstum das vorläufige Zwischenfazit der Expertenorganisation lauten? „Der neue ICNG kann alles, was ein moderner europäischer Zug können muss.“