Ein Hochstapler für die Energiewende
Author: Achim Geiger
Windkraft und Photovoltaik sind die Schlüsseltechnologien für die Energiewende. Im Hinblick auf Verfügbarkeit sind sie aber nicht immer eine sichere Bank. Die Windgötter sind launisch – mal gibt’s zu viel, mal zu wenig Energie. Gefragt sind daher nachhaltige Technologien, die den überschüssigen Strom speichern und bei Bedarf bereitstellen.
Die Energiewende braucht regenerative Energien, am besten jede Menge und bei hoher Verfügbarkeit. In genau diese Richtung argumentiert die Internationale Energieagentur (IEA) in ihrem im Mai 2021 in Paris vorgelegten „Flagship report Net Zero by 2050“, in dem sie ihren Fahrplan für eine weltweite Treibhausgasneutralität vorstellt. Demnach sollen erneuerbare Energien im Jahr 2050 rund 90 Prozent der Stromerzeugung übernehmen. Damit das klappt, müssten allein bis 2030 Jahr für Jahr rund 1.000 Gigawatt zusätzliche elektrische Kapazitäten durch Wind- und Sonnenenergie dazukommen. Es reicht allerdings längst nicht aus, wenn sich künftig viele Windräder fleißig im Wind drehen und große Photovoltaik-Anlagen ihre Module zur Sonne hin ausrichten. Die Wettergötter pflegen bekanntlich ihre Launen – daher gibt es mal zu viel Energie oder eben zu wenig. Eine nahe liegende Lösung ist die Speicherung überschüssiger Kapazitäten, die dann bei einer Flaute ins Netz eingespeist werden. Prima wären aus ökologischer Sicht Pumpspeicherkraftwerke, die große Mengen Energie speichern können. Allerdings verfügen nicht viele Länder über solche Ressourcen wie Norwegen, wo über 95 Prozent des Stroms durch Wasserkraft erzeugt wird. Auch Akku-Technologien sind in der Energieversorgung mit ihrem hohem Speicherbedarf und langer Speicherdauer vorerst keine Alternative, wie das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) in seiner „Technologie-Roadmap Stationäre Energiespeicher 2030“ feststellt.
Die Idee für das neuartige Gravitationskraftwerk ist so einfach wie genial
Schweizer Ingenieurskunst könnte jetzt einen neuen Ansatz bieten, damit Energien nicht ungenutzt verpuffen. Das Technologieunternehmen „Energy Vault“ aus Lugano will Energie mit Hilfe der Schwerkraft speichern. Das neuartige Gravitationskraftwerk überträgt das Wirkprinzip eines Pumpspeicherkraftwerks auf ein landgestütztes System – mit dem Unterschied, dass dort nicht Wasser, sondern schwere Verbundblöcke aus Beton als zentrales Medium fungieren. Die Idee ist so einfach wie genial: Der überschüssige Strom treibt die Elektromotoren in einem Kran an, der die Blöcke an Stahlseilen in die Höhe zieht. In seiner Position angekommen, nimmt das Gewicht eine Lageenergie ein, die der eingesetzten Hubenergie entspricht. Wird Strom benötigt, lässt das System den Block durch die Schwerkraft nach unten sinken – die Elektromotoren arbeiten dann als Generatoren und erzeugen Strom. Die zugrundeliegende Physik lässt sich mit einem Taschenrechner nachvollziehen. Die potenzielle Energie eines Körpers versteht sich als Produkt aus Masse, Erdbeschleunigung und Höhe. Wie hoch wäre also die Ausbeute von 5.000 Betonblöcken mit einem Gewicht von jeweils 35 Tonnen, die auf eine Höhe von 120 Metern angehoben werden?
Die nächste Generation des Energy Vault speichert mehrere Gigawattstunden
Ein Prototyp mit exakt diesen Spezifikationen steht seit August 2020 in der Gemeinde Arbedo-Castione im Bezirk Bellinzona. Rechnerisch beträgt die Kapazität dieses Energy Vault rund 57 Megawattstunden (MWh)– in der Praxis liegt der effektive Wert bei 35 MWh, während die Abgabeleistung vier Megawatt beträgt. Mit diesen Eckdaten qualifiziert sich der Schwerkraftspeicher als Zwischenpuffer, um tagsüber Flauten zu überbrücken oder in der Nacht die Energie in das Stromnetz einzuspeisen. Ganz ohne Hightech kommt diese Anlage allerdings nicht aus. Schließlich muss das Zusammenspiel von Heben und Senken der aus alternativem Zement und Abfallstoffen hergestellten Verbundblöcke perfekt orchestriert werden. Für die automatische Steuerung ist eine KI-basierte Softwareplattform zuständig, die auch Technologien wie maschinelles Sehen integriert. Der Wirkungsgrad des Turms liegt laut Energy Vault bei rund 90 Prozent. Mittlerweile entwickeln die Luganeser die nächste Generation des Schwerkraftspeichers, die bei der Gesamtleistung noch eine Schippe drauflegt. Die Entwürfe der Anlage erinnern an ein gigantisches Hochregallager, in dem die algorithmisch gesteuerten Blöcke innerhalb des Gebäudes in steter Bewegung sind. Die modular aufgebaute Anlage soll sich in Zehn-Megawattstunden-Schritten auf eine Kapazität von mehreren Gigawattstunden ausbauen lassen. Erste Verträge für die neue Anlage sind bereits in trockenen Tüchern – zum Beispiel hat das auf die Herstellung von nachhaltigem Flugkraftstoff spezialisierte Unternehmen DG Fuels aus dem nordamerikanischen Washington, D.C. Kapazitäten von rund 1,6 Gigawattstunden (GWh) geordert.
Der kryogene Energiespeicher aus Großbritannien ist eine Hightech-Lösung
Auch britischer Erfindergeist leistet bereits einen handfesten Beitrag zur Speicherung von Strom aus erneuerbaren Energien. Das Londoner Unternehmen Highview Power baut gerade in Carrington in der Nähe von Manchester den weltweit größten Flüssigluft-Energiespeicher, der ab 2023 rund 50.000 Haushalte fünf Stunden lang mit Strom versorgen soll. Auch diese Anlage dient als klassischer Zwischenpuffer. Aus technischer Sicht wirkt die Lösung aufwendiger als der Schweizer Schwerkraftspeicher – die Briten setzen auf tiefkalte Flüssigkeiten als Speichermedium. Bei dieser so genannten kryogenen Energiespeicherung wird die Umgebungsluft unter Einsatz von überschüssigem Strom aus Wind- oder Sonnenkraftwerken komprimiert und durch die Abkühlung auf minus 196 Grad Celsius verflüssigt. Diese Flüssigluft lässt sich anschließend in isolierten Niederdrucktanks zwischenspeichern. Wird diese Energie im Netz benötigt, wechselt die Anlage in den Entladezyklus: Sie lässt die flüssige Luft aus den Tanks ab, die sich in der Folge ausdehnt und durch Verdampfung eine Turbine zur Stromerzeugung antreibt. In der Anlage steckt übrigens jede Menge Technologie von MAN Energy Solutions. Die Augsburger steuern den kompletten Turbomaschinenstrang bei – unter anderem diverse Kompressoren, Luftexpander und kryogene Komponenten. Die Kryo-Batterie soll eine Leistung von 50 Megawatt und mindestens 250 Megawattstunden an elektrischer Energie bereitstellen. Laut Highview Power lässt sich die Technologie auf mehrere Gigawattstunden Speicherleistung skalieren. Ihr Wirkungsgrad ist allerdings noch überschaubar. Die Briten nennen eine Größenordnung von 60 Prozent, die sich durch die energetische Nutzung von Abwärme und Kälte auf 70 Prozent steigern lässt. Auch hier sind erste Verträge schon unter Dach und Fach. In Spanien haben die Regionen Asturias, Cantabria, Castilla y Leon sowie die kanarischen Inseln ihre Flüssigluft-Speicher bereits bestellt. Für das nordamerikanische Vermont wiederum ist eine Anlage mit einer Kapazität von 400 MWh geplant.