Reifen: Eine Frage des Profils
Author: Matthias Gaul
DEKRA Fahrversuche mit professionellen Testfahrern auf dem Lausitzring in Klettwitz zeigen die Schwächen abgefahrener Reifen auf. So verlängert sich etwa der Bremsweg auf Nässe im Vergleich zu Neureifen um fast ein Fünftel.
Rund um die Verkehrssicherheit von Fahrzeugen spielen viele Faktoren eine Rolle. Vorausschauendes Fahren, Regelbeachtung, angepasste Geschwindigkeit und das Anlegen des Sicherheitsgurts sind ebenso von Bedeutung wie Systeme der aktiven Sicherheit. Ein weiterer ganz zentraler Baustein bekommt häufig nicht die eigentlich angemessene Aufmerksamkeit: der Reifen und seine Profiltiefe. Immerhin wird mangelhafte Bereifung zum Beispiel in der amtlichen deutschen Unfallstatistik in 38 Prozent der Fälle als Ursache benannt. „Dabei mag sicher eine Rolle spielen, dass etwa ein abgefahrener Reifen für die Polizeibeamten an der Unfallstelle relativ einfach zu erkennen ist“, sagt Peter Rücker, Leiter der DEKRA Unfallforschung und Unfallanalytik. Möglicherweise sei die Bereifung hier also statistisch eher überrepräsentiert. Davon abgesehen zeige sich aber schon, dass Reifenmängel eine signifikante Rolle im Unfallgeschehen spielen.
Doch welchen Einfluss hat nun die Profiltiefe der Reifen tatsächlich auf das unfallrelevante Fahrverhalten? Um diese Frage zu beantworten, hat DEKRA neue Reifensätze namhafter Hersteller in zwei verschiedenen Größen bei einem Runderneuerer maschinell abrauen, also die Profiltiefe reduzieren lassen und mehrere Versuche durchgeführt. Am Steuer der Fahrzeuge saßen dabei professionelle Fahrer, die auf verschiedenen Teststrecken am DEKRA Lausitzring in Klettwitz das Fahrverhalten von Reifen mit Profiltiefen von sieben bis acht Millimetern (Neuzustand) sowie mit vier bis fünf und zwei bis drei Millimetern prüften.
Bremsweg um 16 bis 18 Prozent länger als bei Neureifen
In der ersten Versuchsreihe wurde ein Pkw mit den unterschiedlichen Reifensätzen jeweils aus 100 km/h voll abgebremst, und zwar sowohl auf nasser als auch auf trockener Fahrbahn (ABS-Bremsung nach DIN 70028). Dabei verlängerte sich der Bremsweg mit der niedrigsten Profiltiefe im Vergleich zum Neuzustand vor allem bei Nässe deutlich. „Wir haben bei den beiden verschiedenen Reifendimensionen eine Verlängerung des Bremswegs zwischen 16 und 18 Prozent gemessen“, erklärt DEKRA Reifenexperte Christian Koch. Im Ernstfall kann dieser Unterschied über Leben und Tod entscheiden. Denn an der Stelle, an der man mit neuwertigen Reifen zum Stehen kommt, hat das Fahrzeug mit den auf zwei bis drei Millimeter Profiltiefe reduzierten Reifen noch eine Restgeschwindigkeit von rund 30 km/h. „Prallt man etwa mit dieser Geschwindigkeit gegen das Heck eines Lkw, sind schwere Verletzungen möglich“, gibt Unfallexperte Peter Rücker zu bedenken. Kollidiere man so zum Beispiel mit einem Radfahrer, seien für diesen schwerste, schlimmstenfalls tödliche Verletzungen wahrscheinlich.
Auch auf trockener Fahrbahn wurde der Bremsweg mit den abgerauten Reifen länger, allerdings nur um 2,4 bis 8,5 Prozent.
Kurvengrenzgeschwindigkeit sinkt mit abnehmender Profiltiefe
Die zweite Versuchsreihe hatte eine stationäre Kreisfahrt zum Inhalt (nach ISO 4138). Dabei beschleunigt ein professioneller Testfahrer ein Fahrzeug in einem festen Kurvenradius nach und nach so lange, bis die Querkraftübertragung in den Grenzbereich kommt und das Fahrzeug ausbricht – also bis zur so genannten Kurvengrenzgeschwindigkeit. Bei diesen Versuchen machte die Profiltiefe auf trockener Fahrbahn nur einen geringen Unterschied. Bei Nässe dagegen sah die Sache anders aus: „Die Kurvengrenzgeschwindigkeit lag bei zwei bis drei Millimetern Profiltiefe zwischen 10 und 18 Prozent niedriger als mit den Neureifen“, berichtet Reifenexperte Koch. Das Fahrzeug gerate schon bei deutlich niedrigeren Geschwindigkeiten in einen instabilen Fahrzustand, was wiederum leicht zum Unfall führen könne. Die dritte Versuchsreihe, der doppelte Fahrspurwechsel (nach ISO 3888-1), auch bekannt als „Elchtest“, untermauerte die Ergebnisse.
„Wir haben insgesamt festgestellt, dass mit abnehmender Profiltiefe die Reifen bei der Kraftübertragung zwischen Fahrzeug und Fahrbahn insbesondere bei Nässe deutlich schlechtere Leistungen aufweisen“, bilanziert Christian Koch. Somit könnten kritische Situationen leichter entstehen und das Stabilitätsprogramm ESP zeige weniger Wirkung. „Hinzu kommt, dass mit geringerem Profil das Thema Aquaplaning relevanter wird, der Reifen also auf dem Wasserfilm einer nassen Fahrbahn aufschwimmt und so den Kontakt zur Straße verliert“, ergänzt Koch. Bei höherer Profiltiefe kann das Profil das Wasser dagegen besser aufnehmen, was die Aquaplaning-Gefahr reduziert. Die Versuche bestätigten zugleich, dass die in Europa für Pkw gesetzlich vorgeschriebene Mindestprofiltiefe von 1,6 Millimetern die absolute Untergrenze ist. „Im Interesse der eigenen Sicherheit empfehlen wir daher, die Reifen schon auszutauschen, bevor sie so stark abgefahren sind“, rät der DEKRA Reifenexperte.
In der Realität spielt auch Reifenalterung eine Rolle
Die Versuche mit den maschinell abgerauten Reifen zeigen bei alledem nur die eine Seite des Reifenverschleißes. „Im wahren Leben kommt noch hinzu, dass das Gummi mit zunehmendem Alter in der Regel nach und nach aushärtet, was ebenfalls die Leistungsfähigkeit negativ beeinflusst“, sagt Christian Koch. Deshalb sei davon auszugehen, dass real abgefahrene Reifen, die schon ein paar Jahre alt sind, in diesen Versuchen noch schlechter abgeschnitten hätten. „Wir wollten aber gezielt nur die Auswirkung der Profiltiefe untersuchen – deshalb waren auch die abgerauten Reifen mit Blick auf die Gummimischung noch neu“, betont der DEKRA Reifenexperte.
Die Genehmigung und Zulassung von Reifen in Bezug auf Rollwiderstand, Geräuschemission und Nassgriffigkeit finden in der EU zurzeit übrigens noch ausschließlich auf der Basis ihres fabrikneuen Zustands statt. Wie gut ein Reifen mit verminderter Profiltiefe seine Arbeit verrichtet, bleibt bislang unberücksichtigt. Das wird sich in Zukunft aber ändern, die entsprechenden Vorgaben und Normen befinden sich in der Abstimmungsphase.