Ganz auf Linie

Author: Achim Geiger

21. Juni 2023 Innovation

Der Wettlauf um die Stadt der Zukunft zwingt Architekten und Stadtplaner zu immer größeren und kühneren Entwürfen. Neue Konzepte gibt es in Saudi-Arabien – spektakuläre Bauprojekte, in denen der Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Virtualität eine wichtige Rolle spielen soll.

Große Baumeister brauchten immer schon jede Menge Mut, Ehrgeiz und Selbstvertrauen, um Projekte auf den Weg zu bringen, von denen die meisten Standesgenossen lieber die Finger ließen. Anders hätten wohl die Pyramiden von Gizeh, die Chinesische Mauer, der Taj Mahal, der Petersdom und der Eiffelturm keine Chance gehabt. Auch die moderne Architektur kennt Baumeister, die den ganz großen Wurf in den Blick nehmen. Eine blühende Megacity mitten in der Wüste, bei der Künstliche Intelligenz Architekten, Stadt- und Landschaftsplanern zur Hand geht? Eine zu hundert Prozent durch erneuerbare Energien versorgte Metropole, in der es weder Autos noch Straßen gibt, dafür aber ausgefeilte Algorithmen, die sich um die Bedürfnisse der Stadtbewohner, das Mikroklima und das Gebäudemanagement kümmern? In der Virtualität zum Alltag gehört? In Saudi-Arabien sollen sich diese Vorstellungen in wenigen Jahren im Nordwesten des Landes sowie in der Hauptstadt Riad in der Praxis besichtigen lassen.
Die Bandstadt „The Line“ ist nicht weniger als eine Revolution der Stadtplanung
Das klingt erst einmal nach Zukunftsmusik: Am Reißbrett werden dort die globalen Megatrends „Future Mobility“ und „Sustainability“, die auch DEKRA als Prüforganisation strategisch vorantreibt, auf revolutionäre Weise umgesetzt. Für die DEKRA Experten kommen Konzepte wie dieses – auch wenn sie selbst nicht aktiv daran beteiligt sind – nicht unerwartet: Ähnliche Muster haben sie in der Vergangenheit schon in anderen Großprojekten ausgemacht.
Willkommen also in „The Line“, dem Herzstück von Neom – einer gigantischen Planstadt mit Technologiepark und Luxusressortkomplex, die sich am unteren Ende des Golfs von Akaba und entlang der Küste des Roten Meeres verorten lässt. Anfang 2021 erstmals als Entwurf vorgestellt, ist The Line eine sogenannte Bandstadt, die auf den ersten Blick wie ein mit dem Lineal in die Landschaft gestelltes Bauwerk aussieht. Die Eckdaten sind spektakulär: The Line soll 500 Meter hoch und 200 Meter breit werden – und sich über eine Länge von 170 Kilometern ausdehnen. Im Prinzip handelt es sich dabei um eine Reihe von Wolkenkratzern, die mit Brücken untereinander verbunden sind und ein ökologisches System bilden sollen. Eine Anfang Februar 2023 veröffentlichte Studie des Canadian Center of Science and Education beschreibt The Line als Weiterentwicklung der konventionellen Stadt hin zu dreidimensionalen Stadtvierteln. Die Menschen darin sollen sich vertikal, horizontal und diagonal frei in den Dimensionen bewegen.
Zero Gravity Urbanism strebt nach nachhaltigem menschlichem Fortschritt
In der für 2045 erwarteten Endstufe des Ausbaus soll The Line rund neun Millionen Menschen Platz bieten. Das entspricht der Einwohnerzahl von New York, wobei sich die Bandstadt mit rund vier Prozent der Landfläche der amerikanischen Metropole begnügt. Das Konzept hinter diesem Entwurf nennt sich Zero Gravity Urbanism – eine Theorie des Städtebaus, die ein Gleichgewicht zwischen Naturschutz, Lebensqualität und nachhaltigem menschlichen Fortschritt anstrebt. Die einschlägigen Bilder und Videos der Linie zeigen über die gesamte Länge des Gebäudes komplett verspiegelte Außenwände, die natürliches Licht ins Innere durchlassen. Im Innenbereich dominieren schwebende Strukturen und organische Formen mit bunt wachsenden Bäumen und Pflanzen.
Die offenen Bereiche erstrecken sich auf verschiedene Ebenen und ermöglichen einen Blick auf die umliegende Naturlandschaft. Gut erkennbar sind in den Darstellungen die von Künstlicher Intelligenz berechneten und industriell gefertigten Module, die Wohnungen, Schulen und Arbeitsplätze beherbergen. Auch für die Mobilität der Stadtbewohner ist gesorgt: Alle Wege zur Arbeit und zu öffentlichen Einrichtungen sollen sich innerhalb von fünf Minuten per Pedes oder Aufzug bewältigen lassen. Für weitere Reisen steht im Untergeschoss der City ein Hochgeschwindigkeitszug bereit, der die Fahrgäste binnen 20 Minuten vom einen zum anderen Ende der Stadt bringen kann.
Das künftige Wahrzeichen von Riads neuer Downtown ist ein gigantischer Kubus
Kaum weniger spektakulär als The Line wirken die im Februar 2023 vorgestellten Pläne für das neue Stadtzentrum “New Murabba“ in der saudischen Hauptstadt Riad. Mittelpunkt und Wahrzeichen des 19 Quadratkilometer großen und ökologisch ausgerichteten Innenstadtprojekts ist “The Mukaab“ – ein gewaltiger Kubus mit einer Kantenlänge von 400 Metern, in dem weit mehr als ein Dutzend Wolkenkratzer vom Schlag eines Empire State Building Platz finden könnten. The Mukaab nutzt den Raum allerdings auf andere Weise. Im Mittelpunkt des Würfels befindet sich ein spiralförmig aufgebauter Turm mit Wohnungen, Büros, Kinos und Hotels. Um diesen Turm herum wölbt sich eine riesige Kuppel mit einer rund zwei Quadratkilometer großen Grundfläche. Für Staunen dürfte jedoch nicht allein die schiere Größe des Würfels, sondern ein völlig neuer technologischer Ansatz sorgen.
Wie es in den Präsentationen zu dem Projekt heißt, sollen beim Bau die neuesten Fortschritte der virtuellen Realität zum Tragen kommen. Die Kuppel enthält zum Beispiel ein immersives Projektionssystem, das mit Hilfe holografischer Technologien virtuelle Welten erzeugt, die sich mit der Realität gewissermaßen überschneiden. Der Besucher kann so etwa auf fremden Planeten oder in Unterwasserlandschaften spazieren gehen. Ob The Line und The Mukaab eine Blaupause für die Stadt der Zukunft sind? Die Geschichte lehrt, dass auch für große Baumeister Scheitern eine Option sein kann. Läuft aber alles nach Plan, sollen die Projekte 2030 weitgehend fertiggestellt sein. Die Bauarbeiten für The Line haben jedenfalls schon begonnen.