Verantwortungsvoll bauen

Author: Michael Vogel

16. Feb. 2022 Innovation / Nachhaltigkeit

Mehr als die Hälfte der Gebäude, die 2060 auf dem Globus stehen werden, sind noch gar nicht gebaut. Gerade deshalb tut nachhaltiges Bauen bereits heute not. Machbar ist inzwischen vieles, wie einige Beispiele zeigen.

Bosco Verticale heißen die beiden Hochhäuser in Mailand, vertikaler Wald. Ihre Fassaden sind von einem knapp 2.300 Quadratmeter großen Pflanzenteppich bedeckt. Dieser dient als Puffer gegen Sommerhitze und Winterkälte – und reduziert dadurch den Energiebedarf. Das wirkt sich nicht nur auf die 19 beziehungsweise 27 Etagen der beiden Gebäude positiv aus, sondern auch auf das städtische Mikroklima in der Umgebung. Der zusätzliche Wasserbedarf wird aus dem Grundwasser gedeckt, die Pumpen sind solarstrombetrieben.
Geht es um nachhaltiges Bauen, denken die meisten Menschen sofort an solche spektakulären Gebäude wie Bosco Verticale. Doch schaut man sich in den Datenbanken der einschlägigen Zertifizierungssysteme um, stellt man schnell fest, dass nachhaltige Gebäude meistens gar nicht spektakulär aussehen. Sie überzeugen sozusagen durch ihre inneren Werte. Möglich ist inzwischen jedenfalls vieles beim nachhaltigen Bauen, wie folgende Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zeigen.
Nachhaltige Bauprojekte auf allen Kontinenten
Der Neubau der National University of Singapore für die Fakultät „Design and Environment“ musste schon prinzipbedingt nachhaltig werden. Schließlich lernen dort die Studierenden für das Bauen und Leben von morgen. Das Gebäude hat ein weit überhängendes Dach, welches zusammen mit der Ost- und Westfassade die Innenräume vor der tropischen Sonne schützt. Die Klimaanlage kühlt nicht so stark wie üblich, wälzt die feuchtere Luft aber mit höherer Geschwindigkeit um. Dank Fotovoltaikanlage ist das Gebäude energieautark.
Das Bürogebäude von Alfandre Architecture in der Kleinstadt New Paltz im US-Bundesstaat New York erfüllt Passivhausstandards. Laut dem Architekturbüro war es bei der Zertifizierung 2019 eines von nur 17 Nullenergiegebäuden in den USA. Das Regenwasser wird gesammelt und dient als Brauchwasser für die Toiletten. Die Stromversorgung erfolgt über Solarzellen. Bei Wänden und Dach wurde auf eine hochwertige Isolierung geachtet.
Pflegeheime und Sozialwohnungen in Passivhäusern
Doch es muss nicht immer ein Bürogebäude sein. In der Gemeinde Camarzana de Tera in der spanischen Provinz Zamora benötigte ein Pflegeheim eine Erweiterung. Sie gilt in dem südeuropäischen Land als das erste Pflegeheim, das als Passivhaus ausgeführt worden ist. Besser: Das Gebäude erzeugt sogar mehr Energie, als es verbraucht. Möglich wird das neben der solaren Strom- beziehungsweise Wärmeversorgung durch ein passives Kühlsystem. Und ein an den Speisesaal angeschlossenes Gewächshaus mildert die Winterkühle, erleichtert im Sommer das Durchlüften und dient zudem den Bewohnern als Gemüsegarten.
Selbst Sozialwohnungen lassen sich nachträglich auf Passivhaus-Niveau bringen. So geschehen in der französischen Gemeinde Raon-l’Étape in der Region Grand Est bei einem Mehrparteienhaus mit 24 Wohnungen. Die Fassade bekam hierzu eine Verkleidung aus vorgefertigten Holzelementen und ein energiesparsames Ventilationssystem. Die erforderliche Energieversorgung erfolgt über Pellets aus heimischem Holz.
Auch wenn es Gemeinsamkeiten bei vielen Projekten auf allen Kontinenten gibt, hat nachhaltiges Bauen viele Gesichter. Interessant: Mehr als die Hälfte der Gebäude, die 2060 existieren werden, sind noch gar nicht gebaut. Darauf wies Inger Andersen, Under-Secretary-General bei der UN, in ihrer Rede im Rahmen der Klimakonferenz COP26 in Glasgow hin. Wie wir heute bauen, entscheidet also über die Nachhaltigkeit des Immobiliensektors in Jahrzehnten. Wohl auch deshalb gab die Dänin Andersen ihrem Publikum eine klare Devise mit auf den Weg: „Wir müssen besser bauen.“
Drei Fragen an Mike Verhoeven, Auditor der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) und bei DEKRA für den Produktbereich Nachhaltiges Bauen verantwortlich.
Herr Verhoeven, welche Rolle spielt das Thema Nachhaltigkeit inzwischen bei Bauträgern, Architekten und Projektentwicklern?
Verhoeven: Das Thema wird wichtiger, aber wird noch immer etwas stiefmütterlich behandelt. Viele wissen es nicht so recht, was nachhaltig für den Bau oder den Betrieb eines Gebäudes bedeutet. Oft schwingt Angst mit, dass das Projekt zu teuer werden könnte. Dabei agieren Objektbetreiber, etwa von Hotels, oft schon nachhaltig – es ist ihnen bloß nicht bewusst. Wer ein Gebäude für Nutzerinnen und Nutzer attraktiv macht, leistet bereits einen Beitrag zur Nachhaltigkeit. Die soziokulturelle Komponente ist ein wichtiges Kriterium der Nachhaltigkeit, das aber häufig nicht gesehen wird. Es betrifft etwa die Außenbeziehung oder das Raumklima. Die Energieeffizienz dagegen ist beim Thema Nachhaltigkeit in aller Munde, obwohl sie nur ein Aspekt ist.
Was bringen Nachhaltigkeitszertifizierungen für Immobilien?
Verhoeven: Sie sind nicht nur ein Marketinginstrument, denn bei genauerem Hinschauen bedeutet die Zertifizierung viel mehr. Bei zertifizierten Gebäuden ist zum Beispiel auch der Rückbau schon geplant. Es fällt weniger Sondermüll an, weil einzelne Bauteile verschiedener Gewerke gut voneinander zu trennen sind. Die Baustoffe lassen sich dann teils wiederverwenden. Dieses Beispiel verdeutlicht sehr gut, dass nachhaltiges Bauen bereits von Anfang an geplant werden muss.
Was ist einfacher, nachhaltig zu bauen: ein Einfamilienhaus, eine Gewerbeimmobilie oder ein Stadtquartier?
Verhoeven: Gebäude bleibt Gebäude. Beim Einfamilienhaus ist die Technik vielleicht nicht so aufwendig wie bei der Gewerbeimmobilie, aber die Vorgehensweise an sich ist die gleiche. Anders ist es bei Stadtquartieren. Bei der Energieversorgung kann man etwa über eine Nahwärmezentrale nachdenken, die alle Gebäude heizt. Es spielen aber auch Aspekte wie Verkehrswege, Mikroklima, Grün als Sickerfläche und die Art des Bewuchses eine Rolle.