Verlässliches Urteil fürs Fahrzeug
Author: Michael Vogel
Das unabhängige Kfz-Schadengutachten ist ein fester Bestandteil der Regulierung von Unfällen. Es sorgt für Rechtssicherheit. Für Versicherer und Flottenbetreiber bieten sich durch moderne Formen des digitalen Schadenmanagements ganz neue Möglichkeiten.
Statistisch gesehen passiert er einem in Deutschland alle acht Jahre: der Verkehrsunfall. Zum Glück sind es oft nur Blechschäden, doch auch die ziehen eine ganz Reihe von Konsequenzen nach sich. Schnell sind dann unabhängige Gutachten im Spiel, um die Höhe der Schäden zu ermitteln. „Mitte der 1990er-Jahre gab es Prognosen, dass unabhängige Schadengutachten vom Markt verschwinden werden, weil die Versicherer diese Aufgabe selbst übernehmen würden“, erinnert sich Bernd Grüninger, Bereichsleiter Gutachten und Mitglied der Geschäftsleitung der DEKRA Automobil GmbH. „In der Realität ist es gerade umgekehrt – wir erstellen heute mehr Gutachten als früher.“ Dies liegt auch daran, dass sich durch Sensorik, Assistenzsysteme und Elektromobilität selbst vermeintlich geringe Schäden als teuer herausstellen können.
Was sich jedoch verändert habe, sei die Differenzierung der Gutachtenlandschaft im Kfz-Bereich. „Versicherern oder Flottenbetreibern bieten wir inzwischen abgestufte unabhängige Sachverständigendienstleistungen an, die ihre spezifischen Anforderungen gezielt abdecken“, sagt Grüninger. Deshalb gibt es für Kfz-Unfälle neben dem vollumfänglichen Schadengutachten auch schlankere Dienstleistungen wie zum Beispiel den Schadenbericht, die Reparaturkostenprognose und die Reparaturkostenkalkulation.
Das Kfz-Schadengutachten
„Das Kfz-Schadengutachten ist der Standard“, erläutert er. „Haftpflichtgeschädigte Unfallbeteiligte werden in der Regel nur mit dieser Form in Kontakt kommen, denn es ist beweissichernd, bildet die Grundlage für die Schadenregulierung und die Sicherung der Ansprüche – und es ist verkehrsfähig und prozesstauglich.“ DEKRA Gutachterinnen und Gutachter schauen sich dazu das Fahrzeug an, erheben dessen technische Daten und erfassen eventuelle Vorschäden sowie die aktuellen Unfallschäden. Anschließend ermitteln sie detailliert die voraussichtlichen Instandsetzungskosten, den aktuellen Restwert des Fahrzeugs und seinen aktuellen Wiederbeschaffungswert. Daraus ergibt sich auch die Antwort auf die Frage, ob es sich um einen wirtschaftlichen Totalschaden handelt. Zum Gutachten gehört außerdem eine Stellungnahme zur Wertminderung bei einem Haftpflichtfall beziehungsweise zum Wertausgleich bei einem Kaskofall.
„In Bezug auf die Kosten eines Gutachtens liegt das Gros der Kfz-Schadengutachten bei DEKRA in einer Spanne zwischen 300 und 800 Euro“, sagt Grüninger und räumt gleich mit einem immer noch weit verbreiteten Irrtum auf: „Wer unverschuldet einen Unfall hat, darf selbst entscheiden, von wem er das Kfz-Schadengutachten erstellen lässt. Die Versicherung des Unfallgegners muss das akzeptieren und die Kosten voll übernehmen.“ Dies gelte im Übrigen auch in Sachen Rechtsbeistand.
„Versicherer und Flottenbetreiber haben jedoch oft andere Anforderungen an eine Schadensbeurteilung als eine Privatperson“, so Grüninger weiter. „Womöglich ist für sie nur relevant, wie der Buchwert eines verunfallten Fahrzeugs ausfällt, oder die Frage des Wiederbeschaffungswerts ist unwichtig oder es geht lediglich um die Überprüfung einer Reparaturrechnung.“ Dann greifen die abgespeckten Formen der unabhängigen Expertendienstleistungen, die natürlich kostengünstiger sind.
Digitales Schadenmanagement
Gerade mit Blick auf die Anforderungen von Versicherern und Flottenbetreibern hat DEKRA kürzlich gemeinsam mit dem Schweizer Unternehmen Spearhead, an dem die Prüforganisation beteiligt ist, ein neues Angebot geschaffen. Anfang 2024 ist es in den operativen Betrieb übergegangen. Stichwort: digitales Schadenmanagement.
„Für Versicherer und Flottenbetreiber ist es wichtig, dass sie die Höhe eines Unfallschadens schnell prognostizieren können, ohne dass zwingend ein Sachverständiger vor Ort sein muss“, erläutert Grüninger. „Dabei geht es zunächst weniger um eine exakte Zahl, sondern um den richtigen Prognosekorridor, in der Spanne zwischen Bagatell- und Totalschaden.“ Anschaulich formuliert: Wenn ein Schaden in Höhe von 3000 Euro an einem 70.000 Euro teuren Neufahrzeug entstanden ist, dann ist klar, dass er repariert wird. Entsteht dieselbe Schadenhöhe an einem Fahrzeug, das eher einen Wiederbeschaffungswert von 5000 Euro hat, dann muss sich ein Sachverständiger dieses Fahrzeug genauer anschauen. „Unsere neue Lösung macht es künftig einfacher, schnell die richtigen Maßnahmen einzuleiten“, so Grüninger.
Big Data-Ansatz in der Unfallauswertung
Und das geht so: Moderne Fahrzeuge übertragen bei einem Unfall automatisch Telematikdaten an den Hersteller. Die Initialzündung kann zum Beispiel das Auslösen eines Airbags sein. Diese Daten lassen sich dann automatisiert mit einem riesigen Datenbestand an Unfällen aus der Vergangenheit abgleichen – ein Beispiel für einen Big-Data-Ansatz. Verkürzt gesagt: Wenn in der Datenbank 100 Unfälle dieses Fahrzeugtyps existieren, bei denen der Airbag auslöste, der Anstoßwinkel und die Verzögerungswerte vergleichbar waren, dann ergab sich ein bestimmtes durchschnittliches Schadenbild und damit eine bestimmte durchschnittliche Schadenhöhe. Die Spearhead-Technologie erkennt dieses Schadenmuster, das mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf das frisch verunfallte Fahrzeug zutrifft. Daraufhin ermittelt das System für dieses Schadenmuster die Reparaturkosten auf der Basis aktueller Ersatzteilpreise. „So bekommt zum Beispiel eine Versicherung bereits unmittelbar nach dem Unfall eine valide Ersteinschätzung“, betont Grüninger. Auf dieser Informationsgrundlage lässt sich dann auch die passende Expertendienstleistung auswählen: etwa ein Gutachten, eine Teleexpertise oder die Prüfung eines Reparaturkostenvoranschlags.
Dynamischer Fragenkatalog liefert Einblicke
Stand heute geben viele Fahrzeughersteller diese Telematikdaten nicht heraus. Deshalb setzen inzwischen große Flottenbetreiber und manche Versicherungen auf eigene Lösungen: Sie rüsten die Fahrzeuge technisch so um, dass sie die Telematikdaten erhalten. Der Aufwand für die Umrüstung ist gering. „Doch auch schon ohne Telematikdaten lässt sich unser Schadenmanagementsystem nutzen, weil es über einen zweiten Informationskanal verfügt, einen dynamischen Fragenkatalog, auf Basis der Big-Data-Einordnung“, sagt Grüninger. „So kann der Versicherer bereits beim Erstkontakt mit Versicherten die richtigen Fragen stellen, um den Schaden schnell, einfach und präzise zu erfassen.“ Hinzu kommt als weiterer Bestandteil eine Bilderkennung.
Gerade für international aufgestellte Versicherer und Flottenbetreiber bietet diese Form des digitalen Schadenmanagements einen weiteren Vorteil: Es lässt sich länderübergreifend einsetzen, auch wenn in anderen Ländern für die Arbeit von unabhängigen Sachverständigen womöglich eine andere Rechtsgrundlage gilt als in Deutschland.
Unfall – was tun?
Tipps von DEKRA zu Sicherung und Verhalten an der Unfallstelle, Beweissicherung, Unfallbericht und Gutachten:
https://www.dekra.de/de/unfall/