Vision Zero: Auf dem Weg zu null Verkehrstoten
Author: Michael Vogel
Rheine ist 2024 von DEKRA mit dem Vision Zero Award ausgezeichnet worden: In der nordrhein-westfälischen Stadt gab es im vergangenen Jahrzehnt innerörtlich extrem wenig Verkehrstote. DEKRA ehrt mit dem Preis regelmäßig die Verkehrssicherheitsarbeit europäischer Städte.
Nahe der niederländischen Grenze, im Dreieck Münster-Osnabrück-Enschede, liegt die Stadt Rheine. 78.000 Menschen wohnen hier. Die Ems durchfließt den Ort von Süden nach Norden, teilt ihn quasi in zwei Hälften. Die lokale Wirtschaft ist mittelständisch geprägt. Die größten Arbeitgeber sind ein international tätiger Essens-Dienstleister, die Stadtverwaltung und ein Autohaus. Rheine hat mehr als 1.200 Straßen – und von denen gibt es erfreulich gute Nachrichten: In neun von zehn Jahren starb dort kein Mensch im Verkehr.
„Die Auszeichnung ehrt uns“, sagt Michael Wolters, „auch wenn uns dieser erfreuliche Umstand der wenigen Verkehrstoten ein wenig überrascht hat.“ Wolters ist der städtische Mobilitätsmanager und in dieser Funktion für die Nahmobilität zuständig. Er betont auch gleich, dass die wenigen Verkehrstoten ein Verdienst von vielen sei. Er selbst arbeitet erst seit 2018 in seiner aktuellen Funktion.
„Es ist schwer zu sagen, was genau zu den wenigen Verkehrstoten beiträgt, aber sicher das aktive Kümmern der Stadtverwaltung, wenn irgendwo Gefahrenstellen oder Unfallschwerpunkte auffallen“, sagt Wolters. Im Arbeitskreis Verkehr der Stadt Rheine werden diese Themen beleuchtet und mögliche Verbesserungen ausgearbeitet. Das Gremium besteht aus Fachleuten der Polizei, der Straßenverkehrsbehörde, der Mobilitäts- und Verkehrsplanung sowie der Technischen Betriebe Rheine. „Unsere konkreten Planungen fußen zudem immer auf vorgelagerten Projekten und strategischen Beschlüssen des Rates der Stadt. Erklärtes Ziel ist die nachhaltige Entwicklung einer lebenswerten und fahrradfreundlichen Stadt.“ Mehr Alternativen zum Auto bedeuten eben häufig auch weniger Verkehrstote.
Tempo-30-Zonen im Stadtgebiet Rheine
Seit 2022 verfolgt Rheine das Ziel, die Tempo-30-Zonen im Stadtgebiet auszuweiten, sodass nur noch auf den Hauptverkehrsstraßen Tempo 50 gilt. „Durch das Herabsetzen der Geschwindigkeiten können neben der Qualitätsverbesserung des Umfeldes die Anzahl und Schwere von Unfällen verringert werden“, so Thomas Roling, Leiter der Mobilitäts- und Verkehrsplanung der Stadt Rheine. Sehr nützlich für die Verkehrssicherheit seien auch die regelmäßigen Stadtteilbegehungen, die es seit sechs Jahren gebe: „Zusammen mit den Stadtteilbeiräten, die die lokalen Probleme am besten kennen, sind wir dann seitens der Stadtverwaltung mit einem interdisziplinären Team vor Ort.“ So können auch kleinere Maßnahmen unmittelbar erörtert werden.
Mit dem Komfortradweg den Radverkehr verbessern
Ein wichtiges Ziel der Stadt ist es, den Radverkehr zu verbessern. Es gibt schon länger den „Komfortradweg“ (Wolters) entlang der Ems. „Künftig soll der Radverkehr von allen Seiten sternförmig in die Innenstadt möglich werden, auf Fahrradstraßen – wobei diese nicht unbedingt räumlich getrennt vom Autoverkehr verlaufen, sich aber optisch abheben werden“, sagt Wolters. Man gehe nicht dazu über, den Belag der Radwege pauschal rot auszuführen, „aber dort, wo es mit Blick auf die Verkehrssicherheit angebracht ist, werden wir das tun“.
Sehr wirkungsvoll für die Verkehrssicherheit – und ein gutes Beispiel dafür, dass eine Stadt sie gar nicht immer allein verbessern kann – ist die in den vergangenen Jahren umgesetzte „Triangel“, eine Art Rad-Schnellweg. „Rheine hat mehr Ein- als Auspendler“, beschreibt Wolters die Ausgangssituation. Um die Radwegeverbindungen im Alltagsradverkehr zu verbessern, wurde vom Kreis Steinfurt, von Rheine und von den umliegenden Gemeinden gemeinsam ein Projekt angegangen: Die deutliche Verbesserung einer größtenteils bestehenden Radverbindung, die überwiegend auf ehemaligen Bahnstrecken verlief.
Die Strecke bekam verbesserte Oberflächen, breitere Fahrbahnen, eine solarbetriebene Beleuchtung und baulich neu gestaltete Vorfahrtregelungen für Radfahrende. Dies sollte den Anreiz erhöhen, beim Pendeln aufs Rad umzusteigen. Sogar eine Brücke wurde dafür neu gebaut, um die Wegestrecke zu verkürzen. „Oft haben die Menschen nur wenige Kilometer bis zur Arbeit; die Triangel wird sehr gut angenommen“, sagt Wolters.
Europas Städte auf dem Weg zu Vision Zero
In Europa haben seit 2009 bereits über 900 Städte, in denen mehr als 50.000 Menschen wohnen, das Ziel erreicht, in mindestens einem Jahr keine Verkehrstoten zu haben. Mittlerweile gibt es in 21 der 22 europäischen Länder, für die entsprechende Daten vorliegen, erfolgreiche „Vision Zero“-Städte. Die höchsten Zahlen sind in bevölkerungsreichen Ländern wie Deutschland, Großbritannien und Nordirland, Spanien, Frankreich sowie Italien zu verzeichnen. In der europäischen Liste tauchen auch 37 Großstädte auf, in denen jeweils weit über 200.000 Menschen leben. Zu den größten gehören Bergen, Espoo, Kattowitz, Mönchengladbach, Newcastle und Vigo.
Für Walter Niewöhner, der bei DEKRA für die Auswertungen verantwortlich ist, die als Grundlage für den Zero Vision Award dienen, kommt es nicht überraschend, das ausgezeichnete Städte gar nicht so genau sagen können, wie ihr Erfolgsrezept lautet: „Bei jeder Stadt sind die Randbedingungen anders und deshalb auch schwer zu verallgemeinern.“ So lehrt die Statistik zum Beispiel, dass unmittelbar im Speckgürtel einer Großstadt gelegene Städte bei der Verkehrssicherheit tendenziell besser abschneiden als ähnlich große Städte fern von Metropolen. Mutmaßlich liegt das daran, dass die Großstädte den Löwenanteil des Autoverkehrs „anziehen“. Und wo weniger Autoverkehr ist, gibt es auch weniger Tote oder Schwerverletzte.
Die DEKRA Vision Zero Map umfasst aktuell 29 Länder der Welt und verzeichnet alle Städte mit mehr als 50.000 Einwohnern, in denen seit 2009 in mindestens einem Kalenderjahr innerorts niemand im Straßenverkehr ums Leben gekommen ist. Verkehrssicherheit wird oft über Unfallstatistiken definiert, insbesondere durch Zahlen von Getöteten und Verletzten. Diese belegen Risiken und Gefahren, also „Verkehrsunsicherheit“. Die
DEKRA Vision Zero Map
zeigt hingegen, wo über Jahre hinweg Erfolge erzielt wurden, damit andere Städte von diesen lernen und der Vision Zero näherkommen können.
Verkehrssicherheit: Alle Beteiligten bleiben im Austausch
Zwei Dinge, davon ist Niewöhner inzwischen überzeugt, lassen sich aber allgemeinverbindlich sagen: „Erstens sollten sich in einer Stadt immer alle Betroffenen miteinander austauschen, deren fachliche Arbeit irgendwie mit der Verkehrssicherheit zu tun hat. So bekommt man eine möglichst umfassende Sichtweise auf die Ursachen – und kann auch mal pragmatische Lösungen für die Entschärfung eines Problems finden.“ Zweitens: „Wir sollten mehr auf die kleineren Städte schauen. Denn Verkehrssicherheitsmaßnahmen, die in Großstädten funktionieren, sind nicht immer auf kleinere Städte zu übertragen, weil sie an infrastrukturelle oder finanzielle Grenzen stoßen. Man darf dann auch einmal andersrum denken: Großstädte könnten auch von kleineren Städten lernen.“
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der für einen stärkeren Fokus auf kleinere Städte spricht: „Maximal die Hälfte der innerstädtischen Verkehrstoten entfällt auf Orte, in denen mehr als 50.000 Menschen wohnen“, sagt Niewöhner. Das zeigten Untersuchungen des DEKRA Teams an deutschen, französischen, griechischen und US-amerikanischen Städten. Es bleibt also noch einiges zu erforschen, bevor die Vision von den null Verkehrstoten überall wahr werden kann.