Unfallanalytiker – Spuren suchen

Author: Joachim Geiger

04. Apr. 2025 Schadenregulierung & Gutachten

Jeder schwere Verkehrsunfall hinterlässt Spuren, die eine Geschichte über den Unfallhergang erzählen. Diese Spuren zu finden und zu erklären ist die Aufgabe für DEKRA Unfallanalytiker. Aber wie gehen diese Experten am Unfallort vor? Und welche Hilfsmittel nutzen sie? Wir haben im Fachbereich nachgefragt.

Schwere Unfälle mit Verletzten und Getöteten gehören immer noch zur Realität auf Europas Straßen – im Jahr 2023 kamen in der Europäischen Union rund 20.400 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben, wobei Fußgänger, Radfahrer und Motorradfahrer besonders gefährdet waren. Jeder dieser Unfälle hat eine eigene Geschichte, die Gerichte, Staatsanwaltschaften und Versicherungen bei der Beurteilung von Schuldfragen interessiert. Die dazu nötigen Erkenntnisse liefern unfallanalytische Gutachten. „Im Prinzip kommt man als Unfallanalytiker zur Unfallstelle wie ein Kinobesucher ins Kino, der erst zum Abspann den Saal betritt und sich daraus ein Bild machen soll, wie der Film gewesen ist“, erklärt Peter Rücker, Leiter der Unfallanalytik und Unfallforschung bei DEKRA Automobil. Die Entsprechung des Abspanns am Unfallort sind Spuren und Fahrzeugendstellungen, aber auch Rahmenbedingen wie Witterungs- und Lichtverhältnisse.

Die Spurenlage am Unfallort ist die Hauptquelle für das Gutachten

„Jede Unfallstelle ist einzigartig, und zwar exakt in dem Zeitpunkt, in dem der Unfall passiert ist“, berichtet Peter Rücker. Eine umfassende Spurensicherung ist daher die wichtigste Grundlage für die Aufklärung von Unfallabläufen. Für den Unfallanalytiker kommt es darauf an, die Spuren an der Unfallstelle exakt aufzunehmen. Dazu gehören unter anderem Fotos und Videos von Schlagspuren, Splitterfeldern und ausgelaufenen Flüssigkeiten auf der Fahrbahn sowie Zerstörungen an Fahrzeugen, Bäumen und Leitplanken. Bisweilen gibt es aber auch Spurenlagen, bei denen sich mancher Unfallanalytiker deutlich mehr Spuren wünschen würde. Der Anprall eines Fußgängers oder Radfahrers auf ein Auto zum Beispiel lässt sich aus der Spurenlage häufig nur schwer rekonstruieren. „Auf der Straße sieht man erst einmal nichts, weil dort weder Auto noch Fußgänger Spuren hinterlassen. Dazu kommt, dass das Auto bei solchen Unfällen oft nur geringe Beschädigungen aufweist“, weiß Peter Rücker. In diesem Fall kann der menschliche Körper selbst zur Spur werden – Knochenbrüche etwa können viel über die Anprallrichtung und die Energie aussagen, die nötig war, um den Bruch herbeizuführen.

Kann der Unfalldatenspeicher im Auto die Unfallanalyse unterstützen?

Auch das Fahrzeug kann unter Umständen wichtige Daten zum Unfallgeschehen beitragen. Moderne Autos haben häufig einen Unfalldatenspeicher (Event-Data-Recorder/EDR) an Bord, der seit Juli 2024 für alle neu zugelassenen Pkw und Nutzfahrzeuge bis 3,5 Tonnen zur Pflichtausstattung gehört. Das Gerät zeichnet Daten wie Geschwindigkeit, Gaspedalstellung, Motordrehzahl, Lenkwinkel und Bremseingriffe kontinuierlich auf, speichert sie aber erst dann, wenn eine bestimmte Auslöseschwelle überschritten wird. Allerdings würde Peter Rücker den Daten des EDR niemals blind vertrauen. Gerade bei Unfällen mit Fußgängern und Radfahrern fehlen immer wieder die entsprechenden Aufzeichnungen im Recorder, weil das Fahrzeug durch den Anprall keine maßgebliche Verzögerung erfahren hat. Die für die Unfallanalyse wichtigen Informationen stehen demnach nicht zur Verfügung. Und wenn die Spuren trotz eingehender Suche nicht ausreichen? Dann muss sich der Unfallanalytiker mit Hilfe von Indizien an die relevanten Daten zur Fahrdynamik herantasten, erklärt Peter Rücker. Das kann so weit gehen, dass das Szenario des Unfalls in einer Versuchsanordnung im DEKRA Crash Test Center mit Fahrzeug und Dummy nachgestellt und Testreihen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten durchführt werden, bis dann Versuch und Realität nah beieinander liegen.

Ein Unfallanalytiker muss kreativ sein und forensisch denken

Der Job des Unfallanalytikers beschränkt sich jedoch nicht allein auf die Spurensammlung. Im Anschluss geht es darum, die unterschiedlichen Unfallspuren richtig zuzuordnen und zu interpretieren. Die Gretchenfrage lautet daher, wie sich die gefundenen Spuren nutzen lassen. „Hier muss ein Sachverständiger kreativ sein und vor allem forensisch denken, sagt DEKRA Experte Peter Rücker. Dazu stehen ihm aber auch ausgezeichnete Ressourcen zur Verfügung. Geht es bei einer Analyse zum Beispiel um die Frage, welche Geschwindigkeiten erforderlich sind, um eine bestimmte Fahrzeugverformung zu bewirken, kann eine Abfrage in der DEKRA Unfalldatenbank helfen. Darin sind nicht nur die Erkenntnisse aus früheren unfallanalytischen Gutachten gespeichert, sondern auch die Ergebnisse der Crashversuche, die die DEKRA Unfallforschung regelmäßig durchführt.

Mit der Simulation im 3D-Modell dem realen Unfallgeschehen auf der Spur

Auch neue digitale Technologien kommen in der DEKRA Unfallanalyse zum Einsatz. Die jüngste Evolutionsstufe der 3D-Photogrammetrie etwa wertet Bilder und Videos einer Unfallstelle aus, die der Unfallanalytiker, teils mit Hilfe von Drohnen, aufnimmt. Eine spezielle Software errechnet aus den Daten ein gestochen scharfes 3D-Bild der Unfallstelle. Füttert man anschließend ein Programm zur Rekonstruktion von Unfällen mit diesem Modell und den eigenen Berechnungen, eröffnen sich der Analyse neue Ansätze. „Da diese Programme nach physikalischen Grundsätzen arbeiten, lässt sich ein Unfall im 3D-Modell gewissermaßen unter originalen Bedingungen mit verschiedenen Parametern immer wieder simulieren“, erläutert Peter Rücker. Auch eine finale Überprüfung des ermittelten Unfallhergangs ist mit einem solchen System möglich. Der Unfallanalytiker speist dazu seine Daten in das Programm ein und lässt damit die Simulation ablaufen. Der virtuelle Unfall wird dann genau zu der Konstellation führen, die der Unfallanalytiker am realen Unfallort vorgefunden hat. Auch bei Gericht können solche Veranschaulichungen für ein besseres Verständnis des Unfallhergangs sorgen.