Von wegen altes Eisen: Mehr als nur Autofahren
Fingerspitzengefühl statt Elektronik: Die Kunst des Oldtimerfahrens
Historische Automobile bieten ein unvergleichliches Fahrerlebnis, das sich grundlegend von modernen Wagen unterscheidet. Während Modelle heutzutage mit umfangreicher Elektronik und Fahrassistenzsystemen viele Fahrfehler verzeihen, erfordern Oldtimer noch weitaus mehr Fahrgeschick und technisches Verständnis sowie eine vorausschauende Fahrweise. Unser DEKRA Experte Carsten Bräuer – selbst passionierter Oldtimersammler und Hobby-Rallye-Fahrer – gibt wertvolle Einblicke, worauf bei der Fahrt mit dem Klassiker zu achten ist.
Mensch-Maschine-Beziehung ohne digitalen Filter
Einer der grundlegenden Unterschiede zwischen klassischen und modernen Wagen liegt natürlich in der Ausstattung sowie dem Komfort. Für unseren Experten bildet das unverfälschte Fahrerlebnis den Kern der Faszination Oldtimer – sei es in einem englischen Roadster ohne Dach und Seitenscheibe, der dem Fahren bei Wind und Wetter eine ganz neue Bedeutung verleiht oder auch in einem Wagen aus den 70ern, der keine Klimaanlage oder Sitzheizung hat. Hierbei empfiehlt Carsten Bräuer, sich gemäß dem Klischee „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung“ auf die Fahrt vorzubereiten. Schließlich sagt die Ausstattung des Wagens nichts über seine Fahrsicherheit aus.
„Am meisten Freude macht mir die Eins-zu-eins-Beziehung zwischen mir und meinem Oldtimer“, erklärt Carsten Bräuer seine Leidenschaft für historische Fahrzeuge. Auch der Mangel an technischer Unterstützung ohne beispielsweise Regelsysteme bildet den Kern der Faszination. Das Fahren eines Klassikers ist für ihn ein unverfälschtes Erlebnis, da es keinen Computer mit Fahrhilfen – ABS oder ESP – wie in modernen Wagen gibt. Daher kommt es auf das Können des Fahrenden an: „Das Auto fährt so sicher und so gut, wie ich mit dem Auto umgehen kann.“ Bei Oldtimern braucht es also Fingerspitzengefühl und Erfahrung – nicht nur bei Ausfahrten, sondern besonders auch bei widrigen Wetterbedingungen oder in Extremsituationen.
Die fahrdynamischen Unterschiede verstehen
Die technischen Unterschiede zwischen modernen Fahrzeugen und Klassikern sind erheblich und wirken sich direkt auf das Fahrverhalten aus. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Kraftübertragung der Reifen – diese übertragen die Kraft, egal ob bei der Lenkbewegung, der Bremstätigkeit, oder auch bei der Spurführung. Bei Automobilen der Vorkriegszeit und den 50er- und 60er-Jahren waren noch Diagonalreifen das Maß der Dinge. Diese haben deutlich andere fahrdynamische Eigenschaften als die heutigen Radialreifen. Ein Radialreifen fühlt sich stabiler und direkter an als ein Diagonalreifen, was wiederum das Handling des Fahrzeugs grundlegend beeinflusst.
Bei der Lenkung sind die Unterschiede noch gravierender: Mit einer modernen Servolenkung ist das Lenken im Stand problemlos möglich – auch wenn die Lenkung eigentlich nur dann betätigt werden sollte, wenn das Fahrzeug in Bewegung ist. Bei einem alten Fahrzeug aus der Vorkriegs-, 50er- oder 60er-Jahre-Ära wird hingegen ein erheblicher Kraftaufwand benötigt. Aus diesem Grund hatten ältere Fahrzeuge deutlich größere Lenkräder – sie dienten als „Hebel“ an der Lenksäule, um die nötige Kraft aufbringen zu können. „Und damit das sicher funktioniert, sollten auch immer beide Hände am Lenkrad sein“, betont Carsten Bräuer. Einhändiges Fahren, das bei modernen Autos mit Servolenkung zwar problemlos möglich – von unserem Experten aber nicht empfohlen – ist, kann bei einem Oldtimer gefährlich werden, da die Zeit zum plötzlichen Ausweichen und Lenkmanövern fehlen könnte.
Bremsen – ein Kapitel für sich
Sicher und schnell zum Halten kommen, schon seit jeher eine wichtige Eigenschaft des Automobils. Bei Bremssystemen haben sich die Technologien ebenfalls über die Jahrzehnte grundlegend gewandelt. Bis in die 50er-Jahre waren Trommelbremsen Standard – diese verhalten sich anders als die heutigen Scheibenbremsen. Deshalb gilt bei Trommelbremsen die Regel: Es sollte im gleichen Gang den Berg hinauf gefahren werden wie hinunter: „Wenn ich ein Gefälle herunterfahre und dabei dauernd auf der Bremse stehe, dann werden die Trommelbremsen warm. Dabei weiten sie sich auf und es kommt zum sogenannten Bremsenfading. Dann kann es passieren, dass ich irgendwann das Gefühl habe, ich trete ins Leere und der Wagen bremst nicht mehr“, warnt Carsten Bräuer. Dieses Phänomen ist bei modernen Scheibenbremsen weniger problematisch, aber dennoch zu beachten.
Schaltgetriebe ohne Synchronisation
Moderne Schaltgetriebe ermöglichen ein reibungsloses Gangwechseln. Bei betagten Klassikern, besonders aus der Vorkriegszeit, gab es jedoch noch keine Synchroneinrichtungen. Diese dienen dazu, die unterschiedlichen Drehzahlen der Zahnräder anzugleichen. Ohne sie würde ein Gangwechsel ein lautstarkes Krächzen verursachen. So meldet sich beispielsweise das Schaltgetriebe in Fahrzeugen aus dem Vorkriegsbereich lauthals zu Wort, wenn in einen anderen Gang geschalten wird. Beim Runterschalten wiederum, wenn die Drehzahl der Zahnräder erhöht wird, muss mit Zwischengas gearbeitet werden, erklärt unser Experte: „Das heißt, dann Kupplung treten, Gang raus, Kupplung wieder kommen lassen, Zwischengas geben, Kupplung treten, Gang wechseln, Kupplung wieder kommen lassen.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zunächst Getriebe mit Teilsynchronisation, bei denen nur der dritte und vierte Gang synchronisiert waren. Erst ab den 70er-Jahren wurden Schaltgetriebe durchgängig synchronisiert. Doch auch diese frühen synchronisierten Getriebe erlaubten kein schnelles Durchschalten wie bei heutigen Fahrzeugen.
Sehen und gesehen werden: Lichtanlagen im Vergleich
Im Dunkeln offenbaren sich weitere markante Unterschiede zwischen Oldtimern und modernen Fahrzeugen. LED-Scheinwerfer sind eine Erfindung der Neuzeit, dementsprechend sind in Oldtimern weniger leistungsstarke Scheinwerfer verbaut und das Fahrzeug beleuchtet deutlich sparsamer die Fahrbahn vor der Karosserie. Carsten Bräuer erinnert sich: „Früher gab es die inoffizielle Regel, ‚Ich fahre nie schneller, als ich sehen kann‘. Wenn also eine Sicht von 50 Metern möglich wäre, würde ich auch nur maximal 50 km/h fahren.“
Wenn sich die Wetterbedingungen verschlechtern, beispielsweise weil es regnet, verschlechtert sich die Sicht nach vorne – das ist bei allen Fahrzeugen gleich, auch bei den Modernen. In einem Klassiker kann dies allerdings drastischere Ausmaße haben: Bei einer verregneten Sicht und einer nassen Fahrbahn stoßen die Leuchtmittel der Scheinwerfer an ihre Grenzen, denn das Wasser schluckt förmlich die Strahlkraft. Einen weiten Blick auf die Straße zu haben ist somit fast unmöglich. Dazu kommt, dass auch die Scheibenwischer älterer Fahrzeuge leistungsschwächer sind, als die modernen Systeme, die effektiver und in schnellen Intervallen auf den Regen reagieren. Für Fahrende ist daher stets erhöhte Aufmerksamkeit und Vorsicht geboten.
Sicherheit – damals und heute
Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen den bejahrten Klassikern und modernen Modellen betrifft die Sicherheitsausstattung. Während moderne Fahrzeuge mit zahlreichen Airbags und ausgeklügelten Knautschzonen ausgestattet sind, boten Fahrzeuge der 50er-Jahre kaum passiven Schutz für die Insassen. Auch Gurte gab es noch nicht serienmäßig, da die Gurtpflicht erst in den 1970ern eingeführt wurde. Und bei manchen hochbetagten Oldtimern sind auch keine Scheiben vorhanden – heute ein Ding der Unmöglichkeit im alltäglichen Straßenverkehr.
Carsten Bräuer beschreibt das Gefühl, im Auto ohne Gurte zu fahren, als „etwas nackig“ – es ist sehr ungewohnt, denn es fehlt etwas, das heutzutage selbstverständlich zum Standard gehört und Sicherheit bietet. Bei älteren Fahrzeugen, also aus der Vorkriegszeit bis in die 50er-Jahre, ist ohne derartige Sicherheitsvorkehrungen eine defensive und ruhige, vorausschauende Fahrweise daher besonders wichtig und empfehlenswert.
Der Experte rät zu einem realistischen Umgang mit den Grenzen der Technik: „Wenn Sie ein hohes Sicherheitsbedürfnis haben und sagen, ich möchte im Fall der Fälle sicher sein, dass ich den Unfall überstehe, dann ist ein Oldtimer vielleicht nicht das richtige Fahrzeug für Sie.“
Fahrsicherheitstraining als Pflichtprogramm
Um die fahrdynamischen Besonderheiten eines Oldtimers sicher beherrschen zu können, rät Carsten Bräuer dringend zu speziellen Fahrsicherheitstrainings für Oldtimer: „Es ist mir eine Herzensangelegenheit, das zu empfehlen – insbesondere für neue Oldtimer-Enthusiasten, also Personen, die jetzt neu in das Hobby einsteigen wollen und möglicherweise noch nie so alte Fahrzeuge gefahren sind.“ Beispielsweise geht die Lenkung eines Klassikers ohne Servolenkung deutlich schwerer, oder die Bremse kann möglicherweise bei starker Betätigung blockieren, weil kein ABS vorhanden ist. Der geübte Rallyefahrer erklärt: „Das bedeutet, dass Fahrende viel mehr ihr Fahrzeug hören und fühlen müssen. Heute lernen wir schon in der Fahrschule, mit aller Kraft auf die Bremse zu treten, bis das Fahrzeug steht. Bei einem Oldtimer landen Sie mit der Taktik möglicherweise überall, nur nicht da, wo Sie eigentlich bleiben wollen, nämlich auf der Straße.“ Deshalb empfiehlt er die Teilnahme an Fahrsicherheitstrainings:
In einem Fahrsicherheitstraining lernen die Teilnehmenden in einem geschützten Umfeld, wie sich das eigene Fahrzeug ohne elektronische Helfer in Grenzsituationen verhält. Sie stellen die optimale Gelegenheit dar, den Klassiker und dessen spezielle Technik besser kennenzulernen. Außerdem werden hier verschiedene Fahrszenarien erprobt, beispielsweise das Fahren im Regen oder wenn der Wagen instabil wird, damit Teilnehmende das Gefühl erleben und zukünftig wissen, wie sie sich in verschiedenen Situationen korrekt verhalten.
Gerade bei wertvollen Klassikern ist ein Fahrsicherheitstraining eine sinnvolle Investition. Die Unfallreparaturen bei Schäden, weil die Handhabung des Oldtimers nicht ausreichend erprobt wurde, übersteigen den Preis eines Trainings um ein Vielfaches. Der DEKRA Experte zeigt sich verwundert, wenn Oldtimerbesitzende die Kosten von 200 oder 300 Euro für ein Fahrsicherheitstraining hinterfragen – während sie gleichzeitig in einem Fahrzeug im Wert von 100.000 Euro sitzen.
Die Technik verstehen – Wartung und Instandhaltung
Wer einen Oldtimer besitzt, sollte auch in der Lage sein, sich mit der Technik auseinanderzusetzen. Ältere Fahrzeuge erfordern deutlich häufigere Wartungsintervalle und regelmäßige Kontrollen. Im Gegensatz zu heutigen Autos, die oft 30.000 Kilometer ohne Ölwechsel auskommen, benötigen Oldtimer alle 3.000 bis 5.000 Kilometer frisches Öl. Auch müssen bestimmte Bauteile wie Gelenke regelmäßig abgeschmiert werden – eine Aufgabe, die bei modernen Fahrzeugen entfällt.
„Damals vor Fahrtantritt wurde regelmäßig nachgeschaut: Wie ist es denn um den Kühlwasserstand gestellt?“, erinnert der Experte. Heute werden diese Kontrollen deutlich selten vorgenommen – „Im Zweifel zeigt das Display: Achtung, Stand zu niedrig!“
Die unverfälschte Fahrfreude entdecken
Trotz aller technischen Herausforderungen bieten Oldtimer ein Fahrerlebnis, das moderne Autos nicht vermitteln können. „Es macht mir persönlich eben auch Spaß, zu wissen: Wenn etwas passiert, bin ich daran schuld. Das Auto kann nichts dafür“, fasst Carsten Bräuer zusammen. „Also fahre ich immer meinen Fahrfähigkeiten entsprechend und nicht das, was das Auto theoretisch kann.“
Und der Experte weiß, wovon er spricht: Mit seiner Sammlung von Oldtimern – von Baujahr 1953 bis 1987 – hat er umfangreiche Erfahrung im Umgang mit historischen Fahrzeugen. Besonders bei Rallyes wie der AvD Histo Monte auf den Spuren der alten Rally Monte-Carlo in den französischen See-Alpen oder der Alpenrallye über die Großglockner-Hochalpenstraße lebt er seine Leidenschaft aus.
Wer bereit ist, sich mit den Besonderheiten eines Klassikers auseinanderzusetzen, wird mit einem authentischen Fahrerlebnis belohnt. „Wer einen Oldtimer besitzen und auch ausfahren möchte, muss sich auf die alten Fahrzeuge einlassen, sich mit der Technik vertraut machen und ein Gefühl für die Fahrweise entwickeln – dann funktioniert das normalerweise echt gut und macht auch richtig viel Spaß!“, versichert der DEKRA Experte.
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